Das Dopingproblem und die Verantwortung der Wissenschaften

Von Helmut Digel (2007)
 

(aus "Olympisches Feuer" 6/2007)
 
 
Doping- und Medikamentenmissbrauch hängen eng zusammen, und beide haben eine lange Geschichte.
Doping findet in den regelgeleiteten Sportarten des Hochleistungssports statt und ist als ein Verstoß gegen die in den jeweiligen Sportarten weltweit geltenden und kodifizierten Regeln zu definieren. 

Medikamentenmissbrauch zeichnet sich dadurch aus, dass Medikamente nicht zu dem Zweckbenutzt werden, wie er von jenen Pharmakologen vorgesehen wurde, die diese Medikamente entwickelt haben, nämlich zur Heilung von Krankheiten.
Medikamentenmissbrauch findet sich in vielen Lebensbereichen, vorrangig jedoch bei der Arbeit und in der Freizeit.

Mittels des Gebrauchs von Medikamenten versuchen Menschen ihren Körper zu formen. Sie versuchen einem Schönheitsideal zu folgen, das möglicherweise nur erreicht werdenkann, wenn man sich missbräuchlich verschiedener Medikamente bedient. Künstler und Wissenschaftler können sich durch Medikamente zu künstlerischen und wissenschaftlichen Höchstleistungen stimulieren. Medikamente machen es möglich, dass wir unsere Arbeitskraft bis zur Erschöpfung ausnützen können. Mit Medikamenten kann die Regenerierungszeit nach anstrengenden Belastungen verkürzt werden.
Auch Konzentration, Kreativität und Wahrnehmungsfähigkeit lassen sich mittels Medikamenten verbessern. Dies ist in
unserer Gesellschaft üblich, weil es nicht verboten ist. Ja, der Gesetzgeber lässt es sogar zu, dass Menschen sich selbst zerstören: Selbstmordversuche sind nicht strafbar.

Der Dopingbetrug ist hingegen eine besondere Form des Medikamentenmissbrauchs. Er bezieht sich nur auf das
System des Leistungs- und Hochleistungssports, und er ist an die Tatsache gebunden, dass in diesem System schriftlich fixierte Regeln herrschen, die auf einer Vereinbarung der Beteiligten beruhen. Dopingbetrug ist somit eine Betrugsform, die nur im System des Hochleistungssports anzutreffen ist, weil auch nur dieses System sich über schriftliche Festlegungen auf das Prinzip des Fair Play festgelegt und die Befolgung der Regeln zur Maxime des sportlichen Handelns erhoben hat.

Zu diesen Regeln gehört das Verbot der Leistungsmanipulation durch Medikamente und andere unerlaubte Hilfsmittel.
Unterscheidet sich somit der Dopingbetrug vom Medikamentenmissbrauch über die codifizierten Regeln, so haben doch
beide gesellschaftlichen Phänomene eine Gemeinsamkeit aufzuweisen. Ermöglicht, verstärkt und verursacht werden sie - insbesondere im 20. und 21. Jahrhundert - ganz wesentlich durch das Handlungssystem der Wissenschaft.

Dabei spielen die Pharmakologie, die Chemie und die Medizin eine entscheidende Rolle. In ihnen werden die Substanzen,
die dem Missbrauch zugrunde liegen, erforscht, entwickelt und anwendungsreif gemacht, zwar zu einem anderen Zweck, aber eben auch zum Dopingbetrug verwendbar. Betrachten wir die Entwicklung der Wissenschaften in den vergangenen Jahrhunderten und beobachten wir dabei die Entwicklung der Naturwissenschaften etwas genauer, so können wir erkennen, dass es im 20. Jahrhundert zu einem "Take-off" der Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie, der Chemie, der Physik und der Medizin gekommen ist.

Wenn wir daher von Medikamenten reden, so sind Pharmakologie und Medizin zunehmend von besonderer Bedeutung.
Ihr Einfluss auf die Gesellschaft wächst, und mit dem Wachstum dieser Wissenschaften kommt es zu einem Wachstum ihrer Industrien, der pharmazeutischen Industrie und der Medizin-Industrie. Deren Erfolge können gewiss immer auch als Erfolge unseres Gesundheitssystems bilanziert werden: Neu entwickelte Medikamente ermöglichen die Heilung von Krankheiten, die zuvor als unheilbar gegolten haben. Mittels Medikamenten lassen sich viele Krankheiten präventiv abwenden. Medikamente mildern Beschwerden, die zuvor als unerträglich wahrgenommen wurden.

Doch der Erfolg der medizinischen und pharmazeutischen Industrie hat auch andere Seiten. Mit dem Wachstum und
dem Erfolg wächst der Medikamentenmissbrauch. In der Welt des Sports ist in der Tat zu erkennen, dass Umfang und
Formen des Dopingbetruges in direkter Beziehung zu den Fortschritten der medizinischen und pharmazeutischen
Industrie stehen.
Betrachten wir das Problem des Dopingbetrugs im Hochleistungssport,so ist festzustellen, dass dieses Problem auf das
Engste mit den naturwissenschaftlichen Disziplinen der Medizin und Pharmakologie verknüpft ist. Man könnte sogar
behaupten, dass es ein modernes Dopingproblem, so wie es heute den Hochleistungssport belastet, ohne diese Disziplinen nicht geben würde. Natürlich sind es nicht alle Mediziner und Pharmakologen, die als Verursacher oder Mitverursacher des größten Problems zu gelten haben, das der Hochleistungssport hat und das ihn zutiefst in seinem Ansehen und seiner Glaubwürdigkeit beschädigt. Doch auch sie tragen eine Mitverantwortung für den Betrug im Hochleistungssport.

Mittlerweile stellt sich das Dopingproblem für die Organisationen des Sports als eine nahezu ausweglose "tödliche" Falle
dar. Der Hochleistungssport ist längst zum "Skandalon" geworden. Nahezu täglich wird in den Massenmedien über
einzelne Fälle des Dopingbetruges berichtet. Immer häufiger verdächtigen sich Athleten gegenseitig. Fast sämtliche sportlichen Höchstleistungen werden unter Verdacht gestellt.
Neuen Rekorden begegnen Experten und Zuschauer gleichermaßen mit Misstrauen. Funktionäre der Sportverbände
werden immer öfter der Lächerlichkeit preisgegeben, wenn sie so unverständlich handeln, wie dies bei vielen Delikten
der Fall ist. Sportärzte werden als Dealer überführt. Pharmakologen entwickeln Substanzen, mit denen Athleten ihre
Leistung steigern können, ohne dass sie bei Anti-Dopingkontrollen positiv getestet werden können. Immer mehr Staaten
verabschieden gesetzliche Regelungen zur Bekämpfung des Dopingbetrugs, die sich jedoch meist als wirkungslos erweisen.

Moralische Rhetorik hat Konjunktur. Das Problem des Dopingbetruges erweist sich dabei jedoch als äußerst komplex. Es ist in seiner Reichweite nicht definierbar, sein Ausmaß kann nur erahnt werden. Verlässliche Lösungen sind bis heute nicht in Sicht. Es ist naheliegend, dass angesichts dieser Situation die Frage gestellt werden muss, welchen Beitrag jenes System zur Lösung dieses gravierenden gesellschaftlichen Problems erbringt, das sich in  differenzierten Gesellschaften durch einen besonderen Auftrag auszeichnet. Zu fragen ist, welche Erkenntnisse, welches Wissen, welche Verfahren und im weitesten Sinne welche Problemlösungen das System der Wissenschaft zur Lösung des Dopingproblems derzeit anbietet, anbieten könnte und möglichst anbieten sollte. Aus nahe liegenden Gründen ist diese Frage vor allem an drei Wissenschaften zu richten. 

Zunächst müssen Pharmakologie und Medizin gefragt werden, welchen Beitrag sie zur Lösung dieses komplexen
Problems beisteuern. Es muss diese Frage aber auch an die Sportwissenschaft gerichtet werden; denn sie ist jene
Wissenschaft, die sich dezidiert auf das System des Sports ausgerichtet hat bzw. ausgerichtet sein sollte und deshalb
mit Blick auf die erwünschten Problemlösungen in diesem Zusammenhang gefordert sein muss. Bloße Erklärungen
reichen dazu nicht aus.

Es ist nicht das Ziel dieses Beitrages, die Forschungsleistungen der Biochemie, der Pharmakologie und der Medizin in
Bezug auf das Dopingproblem einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass
eine universitäre Erforschung des Dopingproblems durch die entsprechenden Institute medizinischer Fakultäten so gut
wie nicht existiert. Aber auch die pharmazeutische Industrie mit ihren Forschungseinrichtungen und mit den dort tätigen
Forschungsexperten hat sich an einer Erforschung des Problems bislang gar nicht oder nur in Ausnahmefällen beteiligt.

Die Erforschung des Problems liegt somit fast ausschließlich in den Händen jener Experten, die in den vom IOC akkreditierten Labors als Biochemiker oder Pharmakologen arbeiten.
Dabei sind durchaus beachtenswerte Ergebnisse erzielt worden. Dies gilt insbesondere für die Nachweismöglichkeiten
von verbotenen Substanzen. Ein wesentlicher Beitrag zur grundlegenden Lösung des Problems ist jedoch von den
Naturwissenschaften bisher nicht erbracht worden. Nach wie vor befinden sich vielmehr sowohl die Medizin als auch die
Pharmakologie in dem Dilemma, dass es Mitglieder der eigenen "scientific community" sind, die den Dopingbetrug
durch ethisch nicht fundiertes wissenschaftliches Handeln begünstigen und sich die Standesorganisationen dieser
Wissenschaften als unfähig oder unwillig erwiesen haben, dieses Problem ernst zu nehmen und zu einer Lösung beizutragen.

Kaum erfreulicher muss uns die Bilanz erscheinen, wenn man nach dem Beitrag der Sportwissenschaft zur Lösung des
Dopingproblems fragt. Die Sportwissenschaft hat sich wohl in ihrer organisierten Form mit zwei Erklärungen zum Anti-
Doping-Problem zu Wort gemeldet; die sind jedoch in ihrer Allgemeinheit und Folgenlosigkeit kaum zu übertreffen.
Ansonsten kann die Sportwissenschaft als Organisation und Institution in ihrer nunmehr nahezu 40-jährigen institutionellen
Geschichte so gut wie keinen Beitrag aufweisen, den man als bedeutsam im Kampf gegen Doping bezeichnen müsste. Dies könnte als beklagenswert angesehen werden. Angesichts der Entwicklung der Sportwissenschaft ist dies
jedoch nicht überraschend. Die Sportwissenschaft hat sich nämlich entgegen einer gut gemeinten Absicht ihrer Gründungsväter zu einer losen Sammlung von wissenschaftlichen Einzeldisziplinen entwickelt, deren Kommunikation untereinander nur sehr begrenzt stattfindet, und vermutlich wird dies auch zukünftig kaum anders sein. Deshalb ist es notwendig, will man die Frage genauer beantworten, welchen Beitrag die Sportwissenschaft zur Lösung des Dopingproblems erbracht hat, dass man die einzelnen Teildisziplinen überprüft. Tut man dies, so muss man jedoch feststellen, dass die Bilanz nur unwesentlich positiver ist.
Die Bewegungswissenschaft und Biomechanik melden Fehlanzeige.
Von der Sportpsychologie gibt es lediglich erste Skizzen, die darauf hinweisen, dass das Problem auch als
psychisches Problem ein beachtliches Ausmaß angenommen hat. Die Pädagogik und Erziehungswissenschaft hat das Feld der Prävention noch nicht einmal in Anfängen betreten. Betrachtet man dabei die Institute für Sportwissenschaft der
deutschen Universitäten, die ja doch in ihrem Zentrum einer sportpädagogischen Ausbildung verpflichtet sind, so wird das
Thema in der Lehre nur am Rande und in der Forschung so gut wie gar nicht bearbeitet. In soziologischen Studien wurden Systemzwänge des Hochleistungssports offen gelegt, die der Hochleistungssport über seine Systemlogik aufgebaut hat. Sportökonomen übertragen theoretische Modelle, die sie in anderen Ökonomiefeldern angewandt haben, auf das
Phänomen des Dopingbetruges und versuchen damit Alternativen zum Kontrollsystem und zur Bestrafung anzubieten.
Die philosophisch-ethische Diskussion wird von ethischtheoretischen und philosophischen Beiträgen geprägt, die
von einer Bagatellisierung des Problems bis zur entschiedenen moralischen Verurteilung reichen. Alle diese Beiträge erfolgen punktuell, sind abhängig von einzelnen Forschern, die sich aus Interesse dem Thema zuwenden, die jedoch
genauso schnell zu ihren traditionellen Forschungsschwerpunkten zurückkehren. Auf diese Weise bleibt sowohl für den
einzelnen Forscher als auch für die jeweilige Disziplin das Dopingproblem ein Randthema, das nicht systematisch bearbeitet wird.

Bilanziert man die mehr als 30-jährige sportwissenschaftliche Forschung im Hinblick auf das Dopingproblem, so kann man deshalb zu keinem anderen Ergebnis kommen, als dass die Sportwissenschaft über erste Ansätze der Problembeschreibung und -analyse bislang nicht hinausgekommen ist.
Ein interdisziplinäres Vorgehen ist nicht zu erkennen, und so kann es kaum überraschen, dass in Bezug auf die dringend
geforderten Problemlösungen der Beitrag der Sportwissenschaft als gering oder gar als nichtig zu bezeichnen ist. Über
einige Zeitschriften-, Handbuch- und Lexikonartikel ist die Sportwissenschaft in Bezug auf dieses Problem nicht hinaus
gekommen. Intelligente, originelle und vor allem praxisrelevante Lösungen sind bis heute nicht in Sicht.

Dabei stellt sich das Problem des Dopingbetrugs als eine Herausforderung dar, wie sie für die Sportwissenschaft kaum
interessanter sein könnte. Der Staat optimiert gemeinsam mit den Sportorganisationen derzeit ein Kontrollsystem, wohl wissend, dass selbst das perfekteste System von Betrügern unterlaufen werden kann. In den Labors bemüht man
sich um Nachweismethoden. Hierzu werden enorme Forschungsmittel aufgewendet. Dabei kann man jedoch davon ausgehen, dass immer dann, wenn eine neue Methode entwickelt wurde, in der Zwischenzeit erfundene neuere
Substanzen mit dieser Methode nicht nachgewiesen werden können. In der ethischen Diskussion verlässt man sich auf
medizinische Begründungen in Bezug auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Athleten, obwohl man wissen
müsste, dass das Gesundheitsargument weder den modernen Sport legitimieren kann, noch ein realistischer Maßstab für
das Handeln von Athleten ist. 
Beim Verbot von Leistung steigernden Substanzen beruft man sich auf das Fair Play- Gebot, obwohl klar ist, dass durch den Einsatz und durch die Nutzung anderer Technologien ständig gegen das Fair Play- Prinzip verstoßen wird. Der Hochleistungssport als Materialschlacht und als ingenieursmanipulierte Technologieschau ist längst Realität geworden. 

Aus ethischen und medizinischen Erwägungen heraus wird "Substitution" als akzeptabel erwogen, obwohl die Grenzen zwischen Substitution und Manipulation systematisch nicht zu ziehen sind.
Hinzu kommt: Welche Strafen können bei Dopingbetrug z.B. als gerecht bezeichnet werden, wenn sich die Akteure des
Betruges sozialstrukturell und unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten erheblich unterscheiden? Welche Abschreckungsmaßnahmen sind notwendig, wenn der Betrug sich in ganz unterschiedlicher Weise als lohnend erweist? Welche organisatorischen und institutionellen Vorkehrungen sind erforderlich, will man den Kampf gegen Doping globaler
führen? Diese Art von Fragen könnte nahezu endlos fortgeführt werden. Doch bereits in ihrer begrenzten Darstellung
verdeutlichen sie das Ausmaß des Problems.

Betrachtet man das Dopingproblem in seiner gesamten Komplexität, so lässt sich also erkennen, dass sich ethische,
juristische, organisatorische, ökonomische, pädagogische, psychologische und soziologische Fragen geradezu auftürmen.
Es gibt wohl kaum ein Problem, in dem es so offensichtlich ist wie beim Dopingproblem, dass verkürzte einzelwissenschaftliche Zugänge zur Problemlösung wohl eine notwendige Bedingung sein können; sie sind jedoch immer
nur ein erster Anfang, will man das Problem auch nur annähernd in den Griff bekommen. Im Kampf gegen das Dopingproblemist der "gordische Knoten" zu durchschlagen. 
Will hierzu die Wissenschaft einen Beitrag leisten, so kann diesnur in einem gemeinsamen Bemühen, in einer koordinierten Aktion, im Forschungsverbund und über herausragende Denkleistungen der Besten der jeweiligen Disziplinen geschehen.

Kreativität und höchste Intelligenz sind notwendig,möchte man einen Schritt vorankommen.
Die aktuelle Situation ist vom Gegenteil geprägt: Redundante Wiederholung der immer gleichen Experimente, längst
bekannte Aussagen und Erkenntnisse werden kopiert, ohne ihre Quellen zu nennen, Geschwätz, moralische Appelle und
Ehrenerklärungen dokumentieren ein Bild von Hilflosigkeit, wie es kaum übertroffen werden kann. In Deutschland entstehen
Eliteuniversitäten, Excellenzcluster und Graduiertenschulen werden gebildet. Doch niemand scheint bereit zu sein, dem größten Massenphänomen in unserer Gesellschaft, dem Hochleistungssport jene wissenschaftliche Referenz zu erweisen, die er dringend benötigt.

Ohne eine umfassende wissenschaftliche Hilfe bleibt der olympische Hochleistungssport auf sich allein gestellt. Und es besteht die Gefahr, dass er den schon seit längerer Zeit beobachtbaren Weg seiner Selbstzerstörung weiter beschreitet.


Prof. Dr. Helmut Digel setzt sich seit vielen Jahren mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen und deren Wirkung auf die Sportentwicklung auseinander. Seit 2002 ist er Ehrenmitglied des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland
 


 

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