Vorsicht Spitzensport - eine Risikoeinschätzung

von Helmut Digel (in "Olympisches Feuer" 2/2013)
 
". . . Da ist zunächst das Gesundheitsrisiko, das für nahezu sämtliche olympische Sportarten konstitutiv ist, was dazu geführt hat, dass das Gesundheitsmotiv zur Legitimation des Hochleistungssports nur noch in ideologischen Proklamationen verwendet werden kann. 

Deshalb ist es auch äußerst fraglich, wenn die Verantwortlichen des internationalen Sports den Anti-Doping-Kampf mit dem Schutz der Gesundheit der Athleten begründen. Die Gefahr, dass das Training im Hochleistungssport, die vielen Wettkämpfe und die ständig wachsende Belastung der Athleten die Gesundheit gefährden, hat sich in den vergangenen Jahren erheblich vergrößert. 
Die Verletzungsrisiken sind in fast allen olympischen Sportarten offensichtlich. Der Umgang mit den Verletzungen ist äußerst nachlässig. Von einem verantwortlichen Gesundheitsmanagement kann nur in wenigen Fällen des Hochleistungssports gesprochen werden. 

Die Gefahr, dass Athletinnen und Athleten langfristige Folgeschäden nach ihrer sportlichen Karriereaufweisen, ist nach wie vor gegeben. Diesbezügliche Befunde sind mehr als alarmierend. Lösungen für das Problem sind nicht in Sicht.

Neben der Gesundheit muss der Athlet sehr viel Geld und Zeit investieren, hat er eine erfolgreiche Leistungssportkarriere zum Ziel. Sein finanzielles Investitionsrisiko ist dabei außergewöhnlich hoch. Wer Leistungssport betreibt, der muss in vielen Sportarten sehr viel Eigenkapital einbringen, ohne dass absehbar ist, jemals eine Rendite dafür zu erhalten...
Kommen überraschende Verletzungen hinzu, die möglicherweise ein Karriereende auslösen, so können hohe Schulden die Folge sein. Eine finanzielle Absicherung für die Zeit nach der Karriere gelingt nur wenigen Hochleistungssportlern. Hochleistungssport ist in fast allen Sportarten ein berufliches Handeln auf Zeit, das auf das Hier und Jetzt ausgerichtet ist, und bei dem die Zeit danach so gut wie nicht im Blick ist. Die Organisatoren des Sports selbst fühlen sich für die Zeit danach nicht verantwortlich...Von einer sozialen Absicherung kann nicht die Rede sein..

Der zweite Risikokomplex ist eng verbunden mit einem Dritten, der auf die Probleme verweist, die dadurch entstehen,dass Athleten heute in ihrer Leistungssportkarriere Anforderungen gerecht werden müssen, durch die ihre gesamte Persönlichkeit gefordert ist. Hochleistungssport betreiben heißt dabei, sich einer Sache voll und ganz verpflichtet fühlen, sehr viel Zeit für dieses Handeln aufzubringen, sich ineinem engen begrenzten Handlungsfeld zu bewegen und sich mit einem Tunnelblick auf die höchsten Ziele auszurichten.Die soziale Integration der Athletinnen und Athleten inverschiedene Lebenswelten ist deshalb in der Regel sehr begrenzt...

 Wenn Trainer, Funktionäre und dieübrige Umwelt des Athleten diesem nahe legen, sich voll und ganz auf den Hochleistungssport zu konzentrieren, nichts Anderes zu tun, als das anspruchsvolle Ziel des olympischen Sieges zu verfolgen, so darf man sich nicht wundern, dass die Bildungs- und Erziehungskarrieren der Athletinnen und Athleten immer kürzer werden, dass Ihre Bildung einseitig ist, von einer umfassenden Allgemeinbildung schon gar nicht mehr gesprochen werden kann und anderweitige kulturelleInteressen bei Hochleistungssportlern eher zur Ausnahmegeworden sind, als dass sie regelmäßig angetroffen werde nkönnen. Wer täglich zu trainieren hat und dies mehrere Stunden am Tag, wer sich nur noch unter seinesgleichen bewegt, wessen Freundeskreis zwangsläufig begrenzt sein muss, wer seine Freizeitinteressen einzugrenzen hat und dieFreizeit allenfalls zur Kompensation der Belastungen beitragen kann, dessen Persönlichkeitsentwicklung ist notwendigerweise problematisch und begrenzt, wenn ihm nicht außergewöhnliche Hilfen bereitgestellt werden.

Die Beschreibung von Risiken im Hochleistungssport könnte fortgeführt werden. Was diesen Risiken gemeinsam ist, ist der Sachverhalt, dass die Athleten heute mit ihnen konfrontiert sind, ohne dabei eine angemessene Hilfe zur Bewältigungund zur Minderung dieser Risiken zu erhalten. 

Auf dieseWeise ist der gesamte Hochleistungssport für die Entwicklungv on Kindern und Jugendlichen zum Risiko geworden. Es darf nicht überraschen, dass immer mehr Menschen sich gegen den Hochleistungssport aussprechen, immer mehr junge Athleten ihre Karrieren beenden und immer mehr Eltern bemüht sind, ihre Kinder von einer derartig gefährlichen Karriere fernzuhalten. 

Die Risiken, die Kinder und Jugendlicheim Hochleistungssport antreffen, gefährden die zukünftige Entwicklung des Hochleistungssports in grundsätzlicher Weise. 

Werden sich die Verantwortlichen des Hochleistungssports dieser Risiken nicht annehmen, wird es zukünftig keine soziale Absicherung für die Athleten geben. Wird der Wettkampfkalender durch die Funktionäre nicht bereinigt, werdendie Trainingsbelastungen nicht zurückgenommen, wird nicht eine wirkliche Doppelkarriere für die Athleten durch entsprechende Betreuungsmaßnahmen ermöglicht, werden diefinanziellen Hilfenzu Gunsten aller Athleten und nicht nur der erfolgreichenAthleten nicht ausgebaut, und wird dem Athleten nicht geholfen,dass er sic humfassend bilden kann, so hat der Hochleistungssport keine verantwortbareZukunft aufzuweisen. Seine kulturelle Bedeutung ist heute vielmehr in hohem Maße gefährdet.
 

Professor Helmut Digel ist  ehemaligerSportfunktionär, Sportwissenschaftler und Handballspieler. 
Er war von 1993 bis 2001 Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes. Er war von 2002 bis 2010 Direktor des Institutes für Sportwissenschaft derUniversität Tübingen. 
Webseite von H. Digel - Sport nachgedacht
 


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