Sportförderunterricht - Auschnitte aus dem Buch von Horst Rusch und Jürgen Weineck
(Vielen Dank an die Autoren und den Verlag, welche die Materialien zur Verfügung gestellt haben)

Vorwort
Lehrplan
Grundformen Klettern

 

Rusch, Horst / Weineck, Jürgen

Sportförderunterricht
Lehr- und Übungsbuch zur Förderung der Gesundheit durch Bewegung. 

HOFMANN-Verlag Schorndorf (Neuauflage 2007)
 
 



Vorwort
In den letzten Jahren haben sich die Entwicklungsbedingungen für unsere Kinder erheblich verschlechtert. Verantwortlich dafür sind die soziokulturellen Veränderungen wie die Technisierung des Alltags, Veränderungen in der Familie und ökologische Probleme, die die Kindheit als eigenständige Lebenswelt gefährden. Sinnliche Erfahrungen und Wahrnehmungen werden immer mehr eingeschränkt, Bewegungs- und Körpererfahrungen auf ein Minimum reduziert. Falsche und einseitige Ernährung sowie unsinnige Eßgewohnheiten führen zu organischen Störungen und sind in Verbindung mit dem Bewegungsmangel verantwortlich für Übergewicht und Fettleibigkeit. Koordinationsschwächen, Herz-Kreislauf- und Haltungsschwächen sind die häufig beschriebenen Folgeerscheinungen, die, in einem wahren Teufelskreis, die psychische Befindlichkeit der Kinder beeinflussen, Bewegungshemmungen, Angst und Unsicherheit auslösen sowie mangelndes Selbstvertrauen und abweichendes Sozialverhalten bewirken können.

Obwohl sich die pädagogischen Zielsetzungen des Sportunterrichts verändert haben und einer ganzheitlichen Gesundheitserziehung in den neuen Lehrplänen Sport (wie z. B. in Bayern) breiter Raum gewidmet wird, reicht der Sportunterricht allein nicht mehr aus, die genannten Bewegungsdefizite auszugleichen und zur Gesundheitsförderung beizutragen.
Die Folgen des anwachsenden Bewegungsmangels der Schulkinder können nur durch eine gesundheitsorientierte Schule, durch eine bewegte Schule, der in diesem Buch in ein eigenes Kapitel gewidmet wird, aufgefangen werden. Im Rahmen der bewegten Schule, in der auch dem Sportförderunterricht ein hoher Stellenwert zugemessen wird, kann gerade den motorisch Benachteiligten Lust und Liebe zur Bewegung vermittelt werden, um im weiteren Leben gesund und leistungsfähig zu bleiben.
Sportförderunterricht ist in allen Ländern der Bundesrepublik als ergänzende Maßnahme zum Sportunterricht vorgesehen. Dieses zusätzlich fördernde und ausgleichende Unterrichtsangebot soll beim motorisch rückständigen Schüler durch Vermittlung von Erfolgserlebnissen das Interesse am Sportunterricht wecken, zur Verbesserung seiner motorischen Leistungsfähigkeit beitragen, individuelle Schwächen ausgleichen und Möglichkeiten zur Lösung psychosozialer Probleme anbieten.
Leider wird Sportförderunterricht derzeit infolge Lehrerstundenmangels an der Mehrzahl der Schulen nicht ausreichend erteilt. Die Inhalte sind aber auch für den sonstigen Sportunterricht bestens geeignet, weil die gesundheitlichen und sozialen Defizite heute bereits bei fast allen Schülerinnen und Schülern festzustellen sind. So gesehen ist jeder Sportunterricht gleichzeitig auch Sportförderunterricht....

So konnte festgestellt werden, daß 11- bis 14jährige Schüler 1986 im Durchschnitt 44 Zentimeter aus dem Stand hochspringen konnten. 1995 schafften die Schüler dieser Altersgruppe nur noch 34 Zentimeter, was einer Leistungsabnahme um 23 Prozent entspricht. Bei den 11- bis 14jährigen Schülerinnen konnte bei dieser Testübung eine Leistungsabnahme um 26 Prozent ausgemacht werden. Während 1986 die Schüler sich noch 32 Sekunden im Hang halten konnten, mußten 1995 die Probanden dieser Altersgruppe schon nach 17 Sekunden aufgeben, was einer Leistungsabnahme von 47 Prozent entspricht. Bei den gleichaltrigen Schülerinnen wurde eine Leistungsabnahme um 44 Prozent festgestellt. Natürlich muß eingeräumt werden, daß aufgrund der doch geringen Zahl der getesteten Schüler/innen nur Tendenzen aufgezeigt werden können.

Die aufgezeigten Untersuchungsergebnisse sollten in Kenntnis der Durchführung schulärztlicher Untersuchungen ganz besonders alarmieren, denn eine spezifische Feststellung von Haltungs-, Organleistungs- und Koordinationsschwächen erfolgt nur bei der Einschulung und kann in der Kürze der Untersuchungszeit, in Anbetracht fehlender spezifischer Untersuchungskriterien sowie aufgrund der Seltenheit der Untersuchungen nur recht oberflächlich sein. Nur die Spitze eines Eisberges wird also sichtbar. Die betroffenen Kinder fallen aufgrund ungenügend ausgebildeter motorischer Fähigkeiten und Fertigkeiten auf und werden schnell als "schwache Schüler", als "Mehlsäcke", "Versager" und "Flaschen" etikettiert. Diese Stigmatisierung kann eine Ursache für dauernde psychische Belastung sein. Angst vor Mißerfolg, vor Blamage und Bloßstellung vor den Mitschülern und dem Lehrer, vor Nichtanerkennung und schlechten Zensuren können zu Verunsicherung, zur Hemmung natürlicher Aktivitäten, zu Gleichgültigkeit und Lustlosigkeit, vor allem aber zu verminderter Erfolgserwartung führen. Diese erhöht wiederum die Mißerfolgswahrscheinlichkeit. Andauernde Mißerfolge bewirken verstärkte Ablehnung und zunehmend soziale Isolierung, unter Umständen Ausschluß vom Kommunikationsprozeß im schulischen und außerschulischen Bereich. Die Folgen sind Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder, die sich durch auffälliges Verhalten, durch Aggressivität, durch Passivität oder durch völlige Unterwerfung bemerkbar machen. "So kann die motorische Schwäche zu einem ernsten Problem werden und zu Zweifeln am eigenen Wert - auch auf nichtsportlichen Gebieten - führen" (ZIMMER R./CICURS, H., 1987).

Bedeutung eines Sportförderunterrichts
Dem Problem des körperlich leistungsschwachen, aufgrund verschiedenster Ursachen sensomotorisch rückständigen Schülers wird erst in jüngster Zeit vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt. Bei Tagungen, Symposien und Kongressen wird die Förderung des leistungsschwachen Schülers als besonders wichtige Aufgabe des Schulsports herausgestellt (LUTHER/RÖTHiG 1982).
So werden u. a. im 2. Aktionsprogramm für den Schulsport (KMK 17.4. 1985) folgende Forderungen aufgestellt:

  • Didaktik des Sportförderunterrichts in die Sportlehrerausbildung einbeziehen;
  • Zusammenarbeit zwischen Sportarzt und Sportlehrer verbessern;
  • Sportförderunterricht in seiner notwendigen Differenzierung optimal gestalten;
  • Problembewußtsein der Eltern durch ausführliche Information über die Bedeutung der Motorik für die Gesamtentwicklung der Kinder schärfen.
Über die Form der Förderung dieser Schüler bestehen jedoch unterschiedliche Auffassungen. Während auf der einen Seite von Ärzten und Pädagogen die Notwendigkeit der Einrichtung des Sporttörderunterrichts für leistungsschwache Schüler aufgrund der beunruhigenden Schuluntersuchungsergebnisse gefordert wird, richten sich andererseits Vertreter derselben Berufsstände gegen die Bildung von Sondergruppen mit der Begründung, daß Leistungsschwächen ja schon das Durchschnittskind betreffen und Fördermaßnahmen im normalen Sportunterricht erfolgen sollten.
Die Kritik am Sporfförderunterricht erstreckt sich im wesentlichen auch auf organisatorische Unzulänglichkeiten und auf die Wirksamkeit der Fördermaßnahmen, die aufgrund organisatorischer Probleme und der entwicklungsbiologischen Situation der betroffenen Kinder als zu gering eingeschätzt wird (DORDEL 1982; DORDEL 1987, 22).

Für eine Einrichtung des Sporfförderunterrichts sprechen nach Meinung der Verfasser jedoch folgende Gründe:

1. Mit Hilfe des Sporttörderunterrichts kann die Zielsetzung "Gesundheitserziehung" als ein pädagogischer Auftrag der Schule besonders gut unterstützt werden.

2. Ziel eines Sportunterrichts und eines zeitgemäßen Sporfförderunterrichts im besonderen muß aber auch die Gesundheitsförderung, also die Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit aller Schüler sein. Sich bewegen zu können, seinen Körper in der Bewegung und durch die Bewegung erfahren zu können, sich über Bewegung ausdrücken zu können, über Bewegung Signale von anderen aufnehmen zu können und mit anderen über Bewegung in Kontakt kommen zu können, durch Bewegung körperliche Leistung erzielen und erfahren zu können, kann zum Wohlbefinden und damit zur Gesundheit beitragen. 


Abb. 1: Einfluß der Bewegung auf das Wohlbefinden
(verändert nach Stubing, A. 1981).
Abb. 1 zeigt schematisch, wie über die Bewegung (Motorik) die motorische, kognitive, soziale und emotionale Entwicklung der Kinder gefördert und damit deren Befindlichkeit verbessert werden kann. Kinder, die am Sportförderunterricht teilnehmen, unterliegen keinem Leistungsdruck und Erfolgszwang, da keine Noten gemacht werden. So können im Sporttörderunterricht motorische Defizite durch ein umfangreiches und motivierendes Spiel- und Sportangebot, das auch die Interessenslage der Kinder im außerschulischen Bereich berücksichtigt, ausgeglichen werden.
3. Aufgabe des Sportunterrichts und besonders des Sporttörderunterrichts ist es, den Schüler auf eine lebenslange sportliche Betätigung vorzubereiten. Dies gilt vor allem für den sportschwachen Schüler, der aufgrund seiner erbbiologisch bedingten körperüchen, geistigen und emotionalen Dispositionen und der damit verbundenen motorischen Interaktionsfähigkeit eher dazu geneigt ist, dem Schulsport den Rücken zuzukehren und jede sportliche Tätigkeit abzulehnen.

4. Von den in allen Ländern der Bundesrepublik angeordneten mindestens 3 Stunden Sport pro Woche, werden selten mehr als 75% durchgeführt. Durch diesen Mangel sind besonders die leistungsschwächeren Schüler betroffen.

5. Die tägliche Bewegungszeit - wie sie derzeit in einigen Ländern für die erste und zweite Jahrgangsstufe angeordnet ist - kann für alle Schüler unter den heutigen Voraussetzungen nicht eingeführt werden. Zusätzlicher Sportförderunterricht käme deshalb besonders den leistungsschwachen Schülern zugute.
 

6. Der sportlich leistungsfähige Schüler wird häufig im Elternhaus, in der Schule und im Verein gefördert. Der leistungsschwache Schüler bleibt dagegen oft sich selbst überlassen. Er könnte im Sportförderunterricht medizinisch, pädagogisch und psychologisch intensiver betreut werden, was allerdings eine enge Zusammenarbeit zwischen Lehrer, Schulpsychologen und Schularzt voraussetzen würde.
 

7. Viele Lehrer verlieren den leistungsschwachen Schüler gerne aus den Augen, da sie sich mit Leistungsgruppen (Schulmannschaften) wesentlich stärker im Schulalltag profilieren können. Speziell für den Sportförderunterricht ausgebildete Lehrkräfte, die auch Sinn und Einfühlungsvermögen für den Leistungsschwächeren haben, können den sportschwachen Schüler motorisch aktivieren und für den Sportunterricht neu motivieren.
 

8. Durch Förderunterricht und Hausaufgaben werden und können auch in anderen unterrichtsfächern Defizite ausgeglichen werden. Deshalb muß ein Sportförderangebot für den sportschwachen Schüler zur Verfügung gestellt werden.
 

9. Sportförderunterricht wird zusätzlich and nicht als Ersatz für den Basissportunterricht oder den differenzierten Sportunterricht angeboten. Von einer Herauslösung aus dem Interaktionsprozeß mit den Klassenkameraden im Sportunterricht kann also nicht die Rede sein.
 

10. Inhalte des Sportförderunterrichts können, wenn dieser aus organisatorischen Gründen nicht zustande kommt, im obligatorischen Sportunterricht eingebracht werden.
 

Da jeder Schüler Anspruch auf die Entwicklung seiner Fähigkeiten hat, gilt es deshalb in der Zukunft auch dem körperlich leistungsschwachen Schüler im allgemeinen Sportunterricht mehr Aufmerksamkeit zu schenken. So muß es „von pädagogisch größtem Interesse für jede Schule sein, die sportmotorisch schwächsten Schüler zu fördern" (RIEDER/ROMPE/KUCHENBECKER 1986).
Abbildung 2 macht (recht ironisch, jedoch sehr treffend) auf den im Sportunterricht oft "vergessenen Schüler" aufmerksam.
 


Abb. 2: Der vergessene Schüler (NICKEL, J., 1985).
 

Hier sei vermerkt, daß nicht allein der in bezug auf die Form der Wirbelsäule von Normen abweichende, jedoch sportaktive Schüler, sondern gerade der sportpassive, oft sogar haltungsnormale unauffällige Schüler besonders gefördert werden sollte, da er durch Bewegungsmangel besonders gefährdet ist.
Es ist deshalb notwendig, daß sich Eltern and Pädagogen an Schule and Hochschule mit dem Problem des leistungsschwachen Schülers auseinandersetzen, um frühzeitig gezielte, vorbeugende and ausgleichende Übungen einzusetzen and geeignete methodisch-didaktische Maßnahmen im obligatorischen Sportunterricht oder im Sporttörderunterricht ergreifen zu können. Dies erscheint unumgänglich, denn DE MAREES and WEIKER (1986) prognostizieren folgende Entwicklung der Leistungsfähigkeit der Bevölkerung im Jahre 2000:

  • Weitere Abnahme der Leistungsfähigkeit der Skelettmuskulatur and der sie versorgenden Transportsysteme „ Lunge" and "Herz-Kreislauf";
  • Zunahme der Gefahr von Veränderungen im passiven Teil des Skelettapparates als Folge von Übergewicht and reduzierter Belastbarkeit der statisch tätigen Muskulatur (Stützmotorik);
  • Zunahme von Grenzbelastungen durch Alltagssituationen mit ansteigendem, potentiell krankmachendem Resultat;
  • Zunehmende psychische Uberbelastung im Schul- (Einfügung der Verfasser), Berufs- and Freizeitbereich mit sich anschließenden Konflikten auf psychosozialem Gebiet.
Das Buch Sporttörderunterricht soll für den Sportunterrichtenden eine Hilfe bei der Auswahl von vorbeugenden, ausgleichenden and haltungsaufbauenden Übungen sein, die auch im regulären Sportunterricht zur Vorbeugung von
Leistungsschwächen eingebaut werden müssen. Für Lehrkräfte mit einer Lehrbefähigung für das Fach Sportförderunterricht soll das Buch eine Unterstützung bei der Vorbereitung, Durchführung and Auswertung dieses Unterrichts sein.

Für Sportstudierende, die sich im Rahmen des Studiums einer Ausbildung and Prüfung im Fach Sportförderunterricht unterziehen müssen, bzw. für Lehrer, die sich im Rahmen der Lehrerfortbildung für diesen Bereich qualifizieren wollen, soll dieses Buch zur Vorbereitung auf die Prüfung dienen. Dasselbe gilt auch für Übungsleiter, die in Vereinen Sportförderunterricht erteilen bzw. im Rahmen der Übungsleiterausbildung eine entsprechende Qualifikation anstreben.

Auch für Sportlehrer an Förderschulen für Verhaltensgestörte, Lernbehinderte, geistig oder körperlich Behinderte, Hörgeschädigte, Sehbehinderte and Blinde sowie für Übungsleiter im Behindertensportverband bietet dieses Buch eine Vielzahl von Übungsbeispielen. Mit Hilfe der in diesem Buch angebotenen Heimtminingsprogramme können Schüler ergänzend zum Sportförderunterricht ihrer individuellen Leistungsschwäche entgegenwirken.

München, im Sommer 1997

Dr. HORST RUSCH
Privatdozent
Dr. med. Dr. phil. habil. JÜRGEN WEINECK

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