Vorbemerkung

von Felix K. Gmünder:
Schwimmverein Limmat

Dieser Artikel zum Thema Stretching erschien im Bulletin 1/96 des Leichtathletikclubs Meilen.
Frau Dr. H. Brühlmann erlaubte dem SV Limmat den Abdruck im Limmatspritzer bzw. die Publikation im Internet.



Im Gespräch, ob sie das Thema immer noch so beschreiben würde, meinte sie, dass sie den Einsatz des dynamischen Stretching vor der Leistung stärker betonen würde. Statisches Stretching würde sie nur nach der Leistung anwenden.

Dem aufmerksamen und eifrigen Stretcher/-in fällt auf, dass die "gültige Stretch-Doktrin" sich im Laufe der Jahre gewandelt hat. Dazu ist zu sagen, dass Stretching, wie viele Massnahmen zur Verbesserung der muskulären Leistungsfähigkeit, strenggenommen nicht wissenschaftlich begründbar sind, und es nie sein werden - es handelt sich vielmehr um langjährige Erfahrungen aus dem Bereich der Physiotherapie und der medizinischen Verletzungsprophylaxe und -behandlung. Die heute propagierten Stretching-Methoden repräsentieren also gültige Arbeitshypothesen und nicht die letzte Wahrheit. Das heisst: Wir werden (hoffentlich) immer klüger. Und es lohnt sich auf den Erfahrungsschatz zurückzugreifen, auf dem der folgende Aufsatz basiert.
 

Ist Stretching für die Katz?

Von Dr. med. Hannabeth Brühlmann

Ein im November 1995 in der renommierten Zeitschrift für Physiotherapie erschienener Artikel, der den Sinn des Stretching in Frage stellt und gar schädliche Effekte geltend macht, verursachte in Sportler- und Betreuerkreisen eine grosse Verunsicherung. Frau Dr. Regula Gmünder, meine Mitarbeiterin in der Sportsprechstunde im Triemlispital, hat in der Folge Literatur zusammengetragen und zusammengefasst. Auf der Grundlage ihres an unserer Physiotherapie gehaltenen Referates und eigener Erfahrungen möchte ich Euch auf den neusten Stand bringen:

Vorweg meine persönliche Meinung: Stretching hat sich in den letzten 10 bis 15 Jahren, seit es in der Sportmedizin Eingang gefunden hat, zu einem optimalen Heilmittel bei Muskel- und Sehnenproblemen entwickelt und hat sich in der Prophylaxe von Verletzungen (und sei es "nur" Muskelkater) etabliert. Wer heute das Stretching verteufeln will, macht einen gefährlichen Schritt rückwärts und ist alles andere als innovativ.

Die neuere Muskelforschung hat jedoch zu einigen Modifikationen geführt. Zuerst etwas Physiologie:

Beim Vorgang der Kontraktion schieben sich Aktin- und Myosinfilamente ineinander und bilden Verbindungen, die sich unter Energieverbrauch wieder lösen. Leistet ein Muskel repetitiv Arbeit, ermüdet er und zwar umso rascher, je grösser die Belastung und je schneller die Bewegung ist.

Am isolierten Muskel konnte gezeigt werden, dass es eine optimale Muskellänge gibt, mit der dieser Muskel maximale isometrische Arbeit leisten kann. Am lebenden Organismus wird diese optimale Muskellänge geschützt durch Reflexe. Das physiologische Ausmass von Dehnung und Verkürzung beträgt ungefähr 10% der Ruhelänge.

Ziele des Dehnens

l. Vorbereitung des Muskels auf eine nachfolgende Arbeit

Hier spielt die optimale Muskellänge eine Rolle. Nur ist es sehr schwierig festzustellen, ob ein bestimmter Muskel die optimale Länge hat. Falls er sie hat und zusätzlich gedehnt wird, schafft man damit eine ungünstige Ausgangsposition. Klar ist die Situation dagegen, wenn ein verkürzter Antagonist die Arbeit des Agonisten behindert. Seine Dehnung ist sicher sinnvoll. Auch soll es durch Immobilität zu leichten Verklebungen zwischen den Geweben kommen, die durch Dehnen gelöst werden, auch das ist sinnvoll. Möglicherweise wird durch eine geeignete Dehntechnik (intermittierendes Stretching) die Durchblutung gefördert. Als Vorbereitung auf eine nachfolgende körperliche Belastung aber gilt sicher: mit Mass.

2. Verbesserung der Beweglichkeit

Die Beweglichkeit eines Gelenkes ist abhängig von der knöchernen und knorpeligen Gelenkkonfiguration, vom Kapsel-Band-System und von der Dehnbarkeit der Muskulatur. Dehnen kann nur dann zur Verbesserung der Beweglichkeit eingesetzt werden, wenn sie durch verkürzte Muskulatur eingeschränkt ist und niemals, wenn arthrotische Randwülste den "Anschlag" bilden. Je nach Anspruch im alltäglichen und sportlichen Leben werden unterschiedliche Anforderungen an die Beweglichkeit gestellt. Die Muskulatur muss optimal gedehnt sein, nicht unbedingt maximal. Wir sind nicht alle Ballettänzer.

3. Prophylaxe oder Therapie von Muskelverkürzungen

Die Muskulatur adaptiert sich an gewohnheitsmässig vorherrschende Längenbeanspruchung. Nach einer Muskelarbeit-entsteht eine Verkürzung der kontraktilen Elemente. Falls nicht überlastet wird, ist diese Verkürzung reversibel. Sowohl im Sport als auch im Alltag wird jedoch oft (nicht immer bemerkt) überbelastet und damit kommt es zur bleibenden Verkürzung. Mit geeigneten Methoden soll versucht werden, die funktionelle oder strukturelle Muskelverkürzung gar nicht erst zustandekommen zu lassen oder wieder zu korrigieren.

4. Verletzungsprophylaxe

Die Verkürzung eines Muskels führt zur muskulären Dysbalance. Folglich wird das Gelenk in einer Stellung gehalten, in der Kräfte auftreten, die zu Verschleisserscheinungen führen. Stretching korrigiert die muskuläre Dysbalance (in Kombination mit Kräftigung je nach Anforderung). Eine reaktionsfähige, kräftige Muskulatur ist weder selbst verkürzt, noch wird sie von einem verkürzten Antagonisten behindert. Sie kann so reagieren, dass akute Verletzungen wie Sehnen- oder Muskelrisse verhindert werden. Persönlich habe ich auch gute Erfahrungen gemacht mit Stretching bei Muskelverletzungen. Die Närbchen resp. Narben richten sich besser nach dem Verlauf der Fasern aus und stören später das Kontraktionsmuster weniger. Auch bei Sehnenverletzungen vermindert sich der Zug auf die Sehne bei gut entspannter Muskulatur, sodass eine Heilung geschehen kann. Vorsicht ist aber angezeigt: Ueberdehnen und übermässige Verlängerung von Muskeln ist zu vermeiden. Durch das gleichzeitige Ueberdehnen von Bändern und Kapsel wird die Verletzungsanfälligkeit erhöht. Diese Gefahr besteht aber fast nur bei Akrobaten, bei Läufern habe ich bisher nur das Gegenteil, also verkürzte Muskeln gesehen.

5. Verbesserung der Muskelregeneration

Nach harter Arbeit ist der Muskel verkürzt siehe 3). Intensives Dehnen kann zur Zerreissung von Sarkomeren führen. Sanftes Dehnen, evtl. nach einer Pause jedoch verbessert die Durchblutung, die Kontraktion löst sich rascher, die Muskeln können sich völlig entspannen.

6. Reduzierung des Muskeltonus

Der Muskeltonus ist sehr schwierig objektiv zu messen. Ebenso ist es umstritten, ob der Tonus, der von sehr vielen Faktoren abhängig ist, durch Dehnung verändert werden kann. Kurzfristig, also nach einer Belastung ist dies anzunehmen, auf den Ruhetonus aber hat Stretching kaum einen Einfluss.

7. Psychische Entspannung

Uns allen ist bekannt, dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen körperlicher und seelischer Spannung. Und die meisten haben schon die Erfahrung gemacht, dass Dehnen der Muskulatur, v.a. das passiv-statische als ganzheitliche Relaxation erfahren wird. Wer es nicht kennt, sollte es unbedingt sofort ausprobieren.

Welche Techniken werden heute angewandt und in welchen Situationen?

1. Dynamisches Stretching

Bis vor kurzem absolut verboten, findet diese Form der Dehnübungen in leicht abgewandelter Form v.a. in der Vorbereitung auf einen Wettkampf Anwendung. Die Dehnung wird durch eine langsam ausgeführte Bewegung bis an die Grenze des Bewegungsausmasses erreicht. Dadurch soll die dynamische Beweglichkeit verbessert werden. Empfohlen sind 8 bis 12 Repetitionen, mehr führt zur Ermüdung und damit statt zu einer verminderten Verletzungsanfällig zu deren Erhöhung.

2. Ballistisches Stretching

Es ist eine nicht ungefährliche Sonderform des dynamischen Stretching, indem mit schnellen, wippenden Bewegungen die Grenze der Beweglichkeit jeweils kurzfristig überschritten wird. Vorteil ist die Verbesserung der dynamischen Beweglichkeit, Nachteil die Auslösung des Dehnreflexes und damit ein gesteigertes Verletzungsrisiko. Diese Form-eignet sich ausschliesslich für Athleten mit ausgeprägtem Körpergefühl und -beherrschung.

3. Aktives Stretching

Durch Kontraktion des Antagonisten wird der Agonist gedehnt. Diese oft erwähnte Form hat meiner Meinung nach eine sehr enge Anwendung, sie funktioniert z.B. im Bereich der seitlichen Rumpfmuskulatur, auch am Vorderarm, aber nicht bei den grossen Beinmuskeln, weil dort das Kraftverhältnis nicht stimmt.

4. Passiv-statisches Stretching

Durch Einsatz der Schwerkraft, von Hilfspersonen oder nicht an der muskulären Balance der betreffenden Gelenke beteiligte Muskeln wird die Dehnung eines bestimmten Muskels, resp. einer Muskelgruppe erreicht. Es ist die am häufigsten praktizierte Form. Wenn die Uebungen korrekt ausgeführt werden, ist es völlig ungefährlich, obwohl gewisse Autoren befürchten, dass eine Ueberdehnung des Muskels möglich ist. Dies allerdings nur, wenn die Dehnstellung zu lange gehalten wird. Empfohlen wird heute das Halten an der Beweglichkeitsgrenze während 10 Sekunden, dann kurz lösen und die Position neu einnehmen mit 3 bis 4 Wiederholungen.

5. Isometrisches Stretching

Der zu dehnende Muskel wird zuerst in seiner Ruhelänge isometrisch, d.h. ohne Verkürzung angespannt, 2 bis 3 Sek. so stark als möglich, unverzüglich wird die Dehnstellung eingenommen und 10 Sek gehalten, danach 20 Sek entspannte Pause. Der Vorgang kann 3 bis S mal wiederholt werden. Diese Methode ist die effizienteste, Kinder und alte Menschen, v.a. solche mit Bluthochdruck sollten sie jedoch nicht anwenden.

6. Weitere Methoden

mit Spannung/Entspannung von Agonisten und Antagonisten, die recht kompliziert sind und am besten unter Anleitung eines Physiotherapeuten gemacht werden.

Welche Methode die beste sei, ist in der Literatur sehr umstritten. Ich denke, es kommt auf die Zielsetzung an (und auf die spezielle Situation des Athleten). Durch sanftes passiv-statisches Dehnen wird eine physische und psychische Entspannung erreicht. Gedehnt wird dabei unterhalb der Beweglichkeitsgrenze während höchstens 60 Sek. Wird eine Tonussenkung angestrebt, z.B. bei Schmerzen nach Operationen oder Verletzungen, kann dies mit intermittierendem statischem Dehnen erreicht werden. Bei Muskelverkürzungen im Sinne einer muskulären Dysbalance wird der Muskel unterhalb der Schmerzgrenze gedehnt und anschliessend in dieser Position einige Male kurz kontrahiert (isometrisch). Soll der Muskel aber auf eine nachfolgende Arbeit vorbereitet werden, ist eine Tonussenkung nicht erwünscht, aktives Stretching ist in diesem Moment richtig oder dynamisches Dehnen, wenn auf grosse Bewegungsausschläge vorbereitet werden soll. Durch letzteres soll zudem via eine Speicherung von elastischer Energie die Kontraktionsbereitschaft gefördert werden. Immer wieder wird kontrovers diskutiert, was nach harter Arbeit mit dem erhöhten Muskeltonus zu geschehen habe. Dem Gesundheitssportler empfehle ich passives statisches Stretching insofern eines intermittierenden Dehnens. Bei sehr stark ermüdeter und akut verkürzter Muskulatur ist die Verletzungsanfälligkeit erhöht (Zerreissen von Sarkomeren). Es muss daher mit sehr viel Feingefühl und /oder mit zeitlicher Verzögerung gedehnt werden. Unmittelbar nach der grossen Belastung soll die Muskulatur zuerst locker durchbewegt werden (Auslaufen, zarte Massage).

Empfehlungen für ein erfolgreiches Dehnen

Aufwärmen vor dem Stretching - Den Bedürfnissen des Sportlers und der Situation angepasste Methode - Die Ausgangsstellung muss sicher sein (keine Balanceübungen) - Die Dehnung muss kontrollierbar bleiben (keine rutschenden Füsse) - Bei der Dehnung von zweigelenkigen Muskeln müssen beide Gelenke in Dehnstellung sein, z.B. gerader Kniestrecker: zuerst in der Hüfte voll strecken, dann Knie beugen - Die Dehnung sollte nach Möglichkeit nicht über mehrere in Serie geschaltete Muskelgruppen gemacht werden - In der besten Position sind Ansatz und Ursprung des Muskels möglichst weit voneinander entfernt und es sind keine Ausweichbewegungen möglich

- Stretching sollte Spass machen und nie als lästige Pflicht empfunden werden

Mit herzlichem Dank an Frau Dr. R. Gmünder und Conny Wolfer für die Durchsicht des Manuskripts und die wertvollen Ergänzungen.

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