"Gesundheitskultur als Leitbegriff einer bewegungskulturellen Gesundheitserziehung"
(S. Grössing)


"... Das Konzept hat wenig im Sinn mit Training und Ausdauer, mit therapeutischer Rückenschule und maschineller Muskelkräftigung, mit Volksläufen und Fitnessstudios. Ich behaupte nicht, dass es damit gar nichts zu tun hätte und die Risikofaktoren und der Bewegungsmangel darin nichts zu gelten hätten, ebenso wenig schlage ich mich auf die modisch andere Seite der Antonovsky-Jünger und finde in meinen gesundheitspädagogischen Überlegungen das Auslangen mit den Schutzfaktoren, der sozialen Kompetenz und dem positiven Selbstkonzept. 

Ich halte beides für wichtig im Bereich des menschlichen Gesundseins und schließe das sportliche Training und die Dehnungsübungen ebenso darin ein wie die Stärkung des Selbstwertempfindens, die Schaffung sozialer Geborgenheit und geborgener Geselligkeit, die Leistungsfähigkeit und die Könnensüberzeugung. Und ich binde alle diese Gesundheitsfaktoren an das vielfältigste Bewegungshandeln, das im Rahmen der Schule, der Vereine, der Familie nur möglich ist, an das zielgeleitete und methodisch durchdachte Bewegungslernen, an Fremd- und Selbstbildungsprozesse innerhalb motorisch-körperlicher Tätigkeiten, an die Vorbildhaftigkeit elterlicher und beruflicher Bewegungserzieherinnen und -erzieher. Dies alles geschieht in der Überzeugung, dass eine bewegungskulturelle Gesundheitsförderung und Gesundheitserziehung ein sehr individuelles, komplexes und variables Phänomen darstellt und die personale Verfassung der Gesundheitskultur in ihrer tausendfältigen Ausformung keinen dieser gesundheitsbestimmenden Faktoren grundsätzlich ausschließt und keinem die alleinige Wirksamkeit zubilligt. Gesundsein hat sehr viel mit Gleichgewicht und Ausgewogenheit zu tun, Gesundheitserziehung im allgemeinen und im Rahmen einer Bewegungserziehung im besonderen ebenfalls.
 

GESUNDHEIT IM WANDEL DER ZEIT

Dass Gesundheit kein biologisches sondern ein kulturelles Thema bildet, ist dann einzusehen, wenn man den Wandel des Gesundheitsbegriffes in den Epochen der abendländischen Geistesgeschichte erkennt und als gesellschaftlich geformt anerkennt. Der Begriff Gesundheitskultur der in dieser Erörterung als Zieldimension einer bewegungskulturellen Erziehung herausgestellt wird, drückt diese kulturelle Verfassung der menschlichen Gesundheit deutlich aus. Er ist Spiegelbild gesellschaftlicher und kultureller Wirklichkeit, Ausdruck des Ganzheitsdenkens und Widerschein eines grundlegenden Paradigmawechsels europäischer Geistigkeit (vgl. Capra 1987). Dem gegenüber ist das Trainingskonzept der Gesundheitserziehung ein Ausdruck naturwissenschaftlich-zergliedernder Denktradition im Sinne des cartesianischen Weltbildes. Beide Denkweisen entwickeln unterschiedliche Körper- und Bewegungsbilder und beide Denkweisen ziehen deshalb auch verschiedenartige Konzeptionen einer körperlich-motorischen Erziehung nach sich. Das hier zu erörternde bewegungspädagogische Konzept ist als Ganzes und in seiner gesundheitskulturellen Teilsicht dem holistischen Weltbild (vgl. Capra 1987) der nachcartesianischen Ära verpflichtet. 

Aus diesem Grunde habe ich auch den gebräuchlichen Risikofaktoren und Krankheitsursachen der sportmedizinischen Betrachtung des Phänomens der menschlichen Gesundheit einige Aspekte hinzuzufügen, weil die beiden zentralen Begriffe Sport und Gesundheit nicht mehr als ausreichend empfunden werden, der komplexen Beziehung zwischen Bewegung und Gesundsein den adäquaten Ausdruck zu geben. Das Trainingskonzept der Gesundheitsförderung konnte im Kampf gegen die Zivilisationskrankheiten mit sportlichen Aktivitäten das Auslangen finden: der weitverbreitete Bewegungsmangel erfordert eben den Ausgleich des sportlichen Trainings zur Reduzierung der Risikofaktoren. 
 

WAS IST GESUNDHEITSKULTUR?

Wenn aber der medizinisch verengte Gesundheitsbegriff zum anthropologischen Aspekt der Gesundheitskultur erweitert wird, reicht die Anleitung und Aufforderung zum Sporttreiben nicht mehr aus, den pädagogischen Weg zum Ziel zu bahnen und zu beschreiten. Was ist also Gesundheitskultur und welchen Beitrag leistet eine Bewegungserziehung zur Erreichung dieses individuell und gesellschaftlich wünschenswerten Zustandes? Der Begriff Gesundheitskultur fasst ein Ensemble personaler Fähigkeiten und institutionell-gesellschaftlicher Zustände in die Einheit eines gesundheitsbedachten Lebensstiles innerhalb gesundheitsbetonter Lebensumstände zusammen. Zu den personalen Fähigkeiten einer gesunden Lebensführung zählen motorische Gewohnheiten erholsamer, ausgleichender, ausdauernder, erlebnishafter und erfahrungsreicher Art, ein bewusstes aber nicht einseitiges Ernährungsverhalten, hygienische Gesundheitspraktiken, Schmerztoleranz, soziale Kompetenzen vielfältigster Art, Selbstvertrauen, Selbstwertempfinden, Leistungsfreude und Könnensoptimismus. Die Gesundheitskultur als individuelle Verfasstheit ist ein gesamterzieherisches Anliegen, das auf den Wegen der Information, Aufklärung, Erfahrung, des Erlebens, Erkennens, Wahrnehmens, der Entwicklung von Handlungsbereitschaft und der Bewusstseinsbildung schließlich zum Ziel einer gesundheitskulturellen Handlungsfähigkeit hinführt. Auf all diesen pädagogischen Wegen kann die Bewegungserziehung Weggefährte und Wegweiser des heranwachsenden Menschen sein. Das Erlernen und Ausführen der Bewegungshandlungen lässt sich mit gesundheitsfördernden Einsichten, Erfahrungen und Erlebnissen verknüpfen und bringt gesundheitsbewusste Handlungsfähigkeiten hervor, und dies in allen vorhin angesprochenen personellen Ebenen. 

EIN BEITRAG ZUM SELBSTKONZEPT

Wenn das positive Selbstkonzept ein zentraler Faktor menschlicher Gesundheit ist - und daran zweifle ich nicht -, wäre zu fragen, was denn das Bewegungshandeln zum Aufbau und Ausbau des Selbstwertempfindens beizutragen vermag? Im Kindes- und Jugendalter läuft viel über den Körper, sein Aussehen, seine Kraft und Geschicklichkeit, seine Leistungsfähigkeit und seine motorische Repräsentanz. Indem wir über den Bewegungsunterricht, über familiäre Bewegungserziehung und Vereinsangebote, den Heranwachsenden den eigenen Körper als kräftig, geschickt, von anderen bewundert, aber auch grenzenhaft, zeitweilig versagend, beschränkt erleben und erfahren lassen, tragen wir als Bewegungserzieher viel zum Selbstkonzept und damit zur Entfaltung des gesundheitskulturellen Lebensstils bei. Bewegungshandeln ist ein gruppenhaft-geselliges Tun, schafft dauerhafte soziale Bindungen, erfordert Kontaktbereitschaft und -fähigkeit und gewährt gruppenbezogene oder partnerschaftliche Geborgenheit. 
Die Einseitigkeit des gesundheitspädagogischen Ansatzes wie ihn Brodtmann (1996) vertritt, kann an einem Beispiel gezeigt werden. Er bezeichnet das positive Selbstkonzept, d.h. die Einsicht in die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens und Handelns als wesentlichen Faktor des Gesundseins und meint dann, dass dieser Faktor durch Jogging, Rückenschule, Yoga, Reformkost nicht zu ersetzen sei. Das ist kurzschlüssig gedacht: Laufen, Gesundheitsgymnastik, bewusste Ernährung können zwar unvernünftig, einseitig, ungesund betrieben werden, aber auch Ausdruck des individuellen Lebenssinnes und der gesundheitskulturellen Lebensführung sein. Und warum sollte es ausgeschlossen sein, durch Yoga auch Lebenssinn zu erfahren? 
Bewegungskulturelle Erziehung zur Anbahnung einer individuellen Gesundheitskultur ist sicherlich ein anderes pädagogisches Konzept als die sportbezogene Gesundheitsförderung durch Training, fällt aber nicht in den Fehler des extremen Pendelausschlages in die andere Richtung. Sportliche Aktivitäten gegen die Risikofaktoren des Bewegungsmangels, ausgleichende Übungen gegen einseitige körperliche Belastung und Haltungsdeformitäten, kräftigende und dehnende Übungen gegen Muskeldysbalancen, Ausdauersport für die Stärkung des Herzkreislaufsystems sind nicht deshalb außer Dienst gestellt, weil sie ehemals zu hoch eingestuft und ins Zentrum des Gesundheitsversprechens gerückt waren. Sie bilden weiterhin einen Teil des Ensembles bewegungskultureller Maßnahmen zur Hinführung auf die individuelle Gesundheitskultur, teilen sich ihre Einsatzberechtigung aber mit anderen motorischen und nichtmotorischen Handlungen, Erfahrungen, Erkenntnissen und Wissensbeständen. 

EINE INDIVIDUELLE UND ZUGLEICH GESELLSCHAFTLICHE ANGELEGENHEIT

Die Beschreibung der Gesundheitskultur als Lebensstil hat die Breite und Vielfalt der bewegungskulturellen Aktivitäten als Mittel der Zielerreichung deutlich gemacht. 
Die gesundheitskulturelle Lebensführung ist ohne Zweifel eine personelle und eine gesellschaftliche Angelegenheit, die Bewegungserziehung hat es aber vorrangig mit der personalen Seite zu tun, weil sie den Menschen befähigt, gesundheitsorientierte Praktiken, Gewohnheiten und Einstellungen kennen zu lernen und auszuüben. Der Pädagoge richtet sein Denken und Handeln auf das Individuum. Den Kern dieser bewegungspädagogischen Überlegungen zum Thema Gesundheitskultur bilden deshalb auch die personalen Fähigkeiten des Menschen, die zu entwickeln und zu stärken der erzieherische Beitrag zur gesundheitskulturellen Lebensführung des einzelnen wäre. Wir erfahren es aber gegenwärtig zu häufig und zu eindrücklich, dass die personale Gesundheitskultur durch negative, umweltliche und gesellschaftliche Faktoren verfehlt oder zumindest beeinträchtigt wird. Wenn sich pädagogisches Bemühen ausschließlich auf das Denken und Handeln des Individuums und nicht beständig und zugleich auch auf die Verhältnisse und Zustände konzentriert, unter denen das alltägliche Leben stattfindet, bleibt es unvollständig und darin wirkungsarm. Schulische Bewegungserziehung unter gesundheitskultureller Absicht hat deshalb Kinder und Jugendliche zu befähigen, gesund zu leben und zugleich dafür zu sorgen, dass die schulische Lebenswelt gesund gestaltet ist. 

ZWEIFACHE SINNORIENTIERUNG

Ich bezeichne mein bewegungspädagogisches Konzept als ein sinnorientiertes. Die Sinnorientierung ist eine zweifache: Bewegungserziehung fragt nach der Sinnhaftigkeit des Bewegens, der Körperpflege, des Wettkämpfens usw. und errichtet auf diesem Sinnfundament das Konstrukt des didaktischen Entscheidens und Handelns, und sie führt den heranwachsenden Menschen über sinnhafte Erfahrungen zur sinngeleiteten Lebenshaltung und Lebensführung. Diese Einsicht lässt sich am Beispiel der Gesundheitskultur veranschaulichen: die bewegungserzieherischen Bemühungen zur Entwicklung und Festigung eines gesundheitskulturellen Lebensstils sind nur dann von Erfolg gekrönt, wenn dem heranwachsenden Menschen die Sinngehalte der ausgleichenden, kräftigenden, dehnenden Übungen, der Ernährungsregeln, Schlafgewohnheiten usw. aufgezeigt werden und diese Teilsinne des Lebens in den Gesamtzusammenhang des Lebenssinnes integriert werden. "

 



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