Regeln für den Gesundheitssport


Der Sportwissenschaftler W. Joch setzt sich in seinen Regeln für den Gesundheitssport
mit aktuellen Vorstellungen zur Frage von Sport und Gesundheit auseinander.
 
"...Gesundheit ist für die Menschen unserer Wohlstandsgesellschaft ein Wert mit höchster Priorität. Nachdem wir - anders als frühere Generationen - fast alles haben, was wir uns wünschen - Freizeit und Urlaubsreisen, Nahrung in Überfülle und kaum noch körperliche Anstrengungen -, machen wir uns vor allem Sorgen um unsere Gesundheit. 
Während noch vor 200 Jahren das Rezept vermittelt wurde, zum Zwecke des Erhaltes der Gesundheit alles zu vermeiden, was der Gesundheit abträglich sei, drängt es den modernen Wohlstandsmenschen eher dazu, nach Lust und Laune zu leben, auf möglichst nichts, was angenehm ist und Spaß macht, zu verzichten, aber dennoch den Gesundheitsanspruch nicht aufzugeben. ....
1. Regel: Ohne Anstrengung geht nichts
Das menschliche Organsystem ist auf Funktion (Tätigkeit) und auf Belastung angelegt: Seine Gesamtleistungsfähigkeit ist das Produkt aus Anlage, Entwicklung und Training. So verkümmert z. B. die Muskulatur bis zur völligen Funktionsuntüchtigkeit, wenn Bewegungs- und Belastungsreize (etwa durch das Anlegen eines Gipsverbandes) ausbleiben. Unter der Gesundheitsperspektive ist also Schonung das denkbar schlechteste Verhaltenskonzept. Deshalb hat der Waldnieler Arzt Dr. van Aaken zu Recht seine Gesundheitslehre als "Die schonungslose Therapie" bezeichnet.

Nun hat der Mensch der industrialisierten Wohlstandsgesellschaft im Alltagsleben aber beinahe kaum noch Gelegenheit, die erforderlichen Belastungsreize zu erfahren. Auch die Arbeitswelt hat ihn weitgehend davon befreit. Der Sport, das sportliche Training und die mit diesem Training verbundenen körperlichen Anstrengungen haben also vorrangig - im Gesundheitssport - die Aufgabe, das wieder zu gewährleisten und sicherzustellen, woran unser Körper seit vielen tausend Jahren gewöhnt ist und was ihm in den letzten 100 Jahren durch unsere gesellschaftliche Entwicklung und unseren Wohlstand zunehmend entzogen wurde: die tägliche körperliche Anstrengung.

2. Regel: Anstrengung muss wieder gelernt werden
Kinder haben, wenn sie gesund sind, ein natürliches körperliches Anstrengungsbedürfnis. Der erwachsene Wohlstandsmensch hat sich das im Laufe seiner Entwicklung abgewöhnt. Wenn er nun beschließt, sich aus Gesundheitsgründen - ab morgen sozusagen - anzustrengen und gesundheitsorientiert zu belasten, dann muss er (bzw. sein Körper) das erst wieder lernen. Nach der Entwöhnung kommt als Vorbedingung und Einstieg in das Gesundheitstraining eine Phase der Gewöhnung.
Der erste Schritt für ein sportbezogenes Gesundheitstraining ist also ein Anstrengungsgewöhnungstraining: Es müssen zunächst die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Belastungen nicht schädigend wirken, sondern dass die körperliche Adaptationsfähigkeit dosiert stimuliert wird. Und dabei ist ein sachlogischer Zusammenhang zu berücksichtigen: Je länger die Phase der Entwöhnung gedauert hat, das heißt, je länger keine Belastungsinterventionen erfolgt sind, desto länger dauert die Gewöhnungsphase.

3. Regel Spaß macht, was man gelernt hat
Der verbreitete Slogan "Sport macht Spaß und fördert das subjektive Wohlbefinden" vermittelt weniger als die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, dass ungewohnte Anstrengungen und die zwangsläufigen Begleiterscheinungen unangepasster körperlicher Belastungen zunächst als unangenehm (bis hin zur Schmerzhaftigkeit, z.B. beim Muskelkater) und durchaus als störend (z.B. bei starker Ermüdung) empfunden werden. Der Sport ist zuerst Müdemacher, nicht von Anfang an ein Muntermacher. Daß Sport und Spaß von vornherein und quasi zwangsläufig eng zusammengehören, stimmt also nicht. Die sportive Wunderdroge "Sport als Spaßmacher" gibt es nicht. Wenn's denn so spaßhaft wäre, das Sporttreiben, brauchte man wohl nicht extra dafür zu werben.
Das Vergnügen und die Lust am Sporttreiben kommt erst, wenn ein gewisses Leistungs- und Könnensniveau erreicht ist. Aber das dauert häufig geraume Zeit. Vor der Erfolg (und den Spaß) haben eben die Götter, wie ein altes Sprichwort sagt, der Schweiß gesetzt.
Zunächst geht es also eher um Mühsal denn um Lust und Vergnügen, eher um der emotionalen Widerstand, der rational überwunden werden muß, als um euphorische  Begeisterung. Spaß, Vergnügen und Lust beim Sporttreiben sind bestenfalls Sekundärtugenden. Sie sind Kriterien der zweiten Instanz und werden erst später als Bereicherung und Steigerung der Lebensqualität empfunden. Sie sind nicht der Auslöser für das Sporttreiben und nur selten Begleiterscheinung von Anfang an; nicht die schneller Ertrag sind ihr Markenzeichen, sondern die - positiven - Spätfolgen.

4. Regel: Sich Zeit lassen
Es klingt paradox, aber: Wir haben - einerseits - alle keine Zeit mehr. Andererseit wächst in unserer Gesellschaft die Zahl derer, die Langeweile haben. Beides ist untypisch für das richtige Sporttreiben. Der gesundheitsbewußte Sportler ist aktiv; er gestaltet sein Leben und seine Freizeit in "aktiver Auseinandersetzung mit der Umwelt". Aber er darf das nicht unter Zeitdruck tun. Wenn Sport gesund sein soll, muss man sich dabei Zeit lassen. Der Manager, der mal eben in der Mittagspause auf den Hometrainer steigt, der Kurz-Urlauber, der sozusagen unmittelbar aus dem Büro kommend für drei Tage eine Skitour in den Bergen unternimmt, der Standesbewusste der zum Golfspielen mit Freunden mal kurz nach Mallorca fliegt oder sich in einen Animations-Club rund um die Uhr betreuen lässt - man gönnt sich ja sonst nichts: Keiner von denen hat wirklich etwas für seine Gesundheit getan.

Ausdauer ist einer der zentralen Gesundheitssport-Begriffe: Ausdauer kann man nich im D-Zug-Tempo betreiben. Wer die nötige Zeit nicht aufbringen kann oder aufbringen will, sollte es besser ganz bleiben lassen. Ausdauersport ist aus Gesundheitsgründen vor allem deshalb so gut und so wichtig, weil man sich dafür Zeit lassen muss. Eine angemessene Vorbereitungszeit gehört ebenso dazu wie eine gründliche und ausgiebige - auch zeitlich aufwendige - Nachbereitung. Die wichtigste Tugend im Gesundheitssport ist die Geduld.

5. Regel: Kontrolle ist besser
Gesundheit ist mehr als "Abwesenheit von Krankheit". Gesundheit wird als "Wohlbfefinden" oder als eine "Befindlichkeitsverbesserung" definiert.Damit ist die sujektive Komponente von Gesundheit besonders hervorgehoben: Gesund ist, wer sich gesund fühlt. Deshalb herrscht vielfach die Meinung, alle Maßnahmen, die zum Erhalt und zur Förderung von Gesundheit unternommen werden, seien am wirkungsvollsten, wenn sie subjektiv als angenehm und als "wohlbefindlich" empfunden werden. Das aber ist häufig ein Irrtum, und zwar ein Irrtum in doppelter Perspektive:

  • Nicht jede Medizin schmeckt gut; und nicht alles, was gut schmeckt, ist förderlich für die Gesundheit. Das ist die eine Seite des Irrtums.
  •  Die andere ist: Beim rechten Maß, der angemessenen Dosierung für Gesundheitsinterventionen, stimmen allzu häufig subjektiver Eindruck und objektive Wirklichkeit nicht überein. Deshalb ist Kontrolle, das objektiv und exakt dosierte Maß, ebenso wie die genau überprüfbare Häufigkeit und Intensität von gesundheitsfördernden Interventionen unbedingt notwendig.
Ein Beispiel, das für viele steht: Nach kurzer Zeit verlieren die meisten den Überblick: wie oft - wie viel - wie intensiv - um wieviel besser als letzte Woche, als vor einem Monat ... Trainieren nach Lust und Laune ist die schlechteste Voraussetzung für einen erfolgreichen und effektiven Gesundheitssport. Nicht nur kontrolliert handeln, sondern auch das Handeln kontrollieren - mittelfristig und langfristig -, das ist die Parole beim Gesundheitstraining.

6. Regel: Umfang vor Intensität
Eine Prämisse gilt für alle Sportler, vor allem die Anfänger und die Neubeginner, insbesondere aber für die Gesundheitssportler: Umfang geht vor Intensität. Wer diesen Grundsatz aus der Trainingslehre nicht beherzigt, schadet sich, seiner Leistungsentwicklung und seiner Gesundheit. Aus Gesundheitsgründen kommt noch die richtige Plazierung der Häufigkeit hinzu. Als Grundregel gilt: So häufig wie möglich - wenn es irgend geht, täglich - und so umfänglich wie verträglich bei geringer Intensität. Derjenige, der diese Regel, diese Reihen- und Rangfolge umkehrt, erzielt vor allem negative Effekte. Wer aus Zeitgründen, oder weil er häufig keine Lust hat, nur unregelmäßig, sporadisch, nur bei gutem Wetter oder im Urlaub Sport treibt, nützt seiner Gesundheit wenig oder gar nicht. Wer glaubt, durch kurzfristige Attacken mit hoher Intensität Umfang und Häufigkeit reduzieren oder kompensieren zu können, hat das falsche Konzept. Zerreißproben für den Organismus sind zu vermeiden. Das Schlechteste, was man seinem Körper antun kann - außer dass man nichts tut - sind unvorbereitete (zu) hohe (Belastungs-) Intensitäten.
Hier sind insbesondere die Anfänger gefährdet. Sie wollen häufig zu viel - und das noch zu schnell. Ungeduld ist ein schlechter Ratgeber für einen wirkungsvollen Gesundheitssport. Gelassenheit ist geboten. Kontinuität, Dauerhaftigkeit und umfangsorientierte Belastungen sind die drei Kardinaltugenden des Gesundheitstrainings und der Gesundheitssportler.

7. Regel: Ballast abwerfen
Wohlstand und die anstrengungsfreie Lebensweise des Wohlstandsmenschen ihre Spuren hinterlassen: Übergewicht. Für Diäten und Abmagerungskurer Millionen ausgegeben. Alle wollen sportlich-schlank sein; die meisten sind aber überfettet und überernährt. Dabei ist das Grundprinzip ganz einfach. Wer mehr zuführt als er an Energie verbraucht, bekommt Gewichtsprobleme. Wer Geld sparen will, sollte anstatt meist nutzloser, aber teurer Diäten, kontrolliert leben: Input und und Output Übereinstimmung bringen, Ballast abwerfen.Neben der körperlichen Seite gibt es aber auch eine psychische Komponente: Ballast abwerfen heißt dann, Stress abbauen, psychische Belastungen reduzieren, dem Druck privat und beruflich - entgehen: Nimm's leichter, ist die Devise. Wer gesund gesund bleiben will, sollte das Leben nicht so schwer nehmen. Auch in diese geht es darum: Ballast abwerfen.

(zit. nach: Joch, W.: Gesundheit als oberstes Ziel. In: AOK 8 /1994)

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