Bewegung, Spiel und Sport im Internet
 
 Rolf Dober
 
 
 

 Wettkampf der Ahnungslosen oder politische Funktionalisierung?
 Bundesjugendspiele im Zerrbild der neuen Kritiker
 
"Liebe Kinder, man will euch verarschen" ... "Welt", 14.9.23
"Aus Rücksicht auf unsportliche Kinder wurden die Wettkämpfe gestrichen."

"Herzlichen Glückwunsch, liebe Kuschelpädagogen, ihr habt gewonnen".
"Zeit", 13.7. 23


 
 


 
 

 

Seit einigen Monaten werden in den Medien viele Falschinformationen über die Bundesjugendspiele sowie den Wettkampf- und Leistungsgedanken im Schulsport verbreitet.

Die "neuen Kritiker" haben sich offensichtlich kaum über die unterschiedlichen Möglichkeiten der Bundesjugendspiele informiert. Trotzdem warnen sie vor dem Ende des Leistungsgedankens oder gar vor einem nationalen Niedergang durch die kleinen Veränderungen bei den Bundesjugendspielen.

"Keine Wettkämpfe mehr bei Bundesjugendspielen: ein falsches Signal" lautet z. B. die Überschrift bei "Sportschau.de"(ARD/SWR), von der Verwässerung des Leistungsgedankens ist dort die Rede. "Warum nimmt man den Kindern ihre Erfolgserlebnisse im Sport?" 

"Keine Konkurrenz ums Höher, Schneller, Weiter, sondern irgendwas Lustiges mit »Erlebnischarakter« und »Miteinander«, so hat es die Kultusministerkonferenz beschlossen." (A. Neubacher im "Spiegel")

Im (leistungsarmen) Wettkampf der ahnunglosen Kritiker werden dann immer neue Etikettierungen entwickelt: "Flauschokratie", "leistungsfreies Kinderkuscheln", "Morbus Mittelmaß", "Leistungsallergie", "Schneeflockenweitpusten"...
Anmerkungen zu den "neuen Kritikern"

Selbst den Kölner Sportwissenschaftler(!) Ingo Froböse (kein Sportpädagoge, aber allseits präsenter Kommentator) scheinen Fakten überhaupt nicht zu interessieren. "Jeder bekommt irgendeine Urkunde" und "Leistungsmessung ist out." (Focus online. 17.7.)
"Wir diskutieren über Leistungsparameter im Sport und schaffen die Wertigkeit der Bundesjugendspiele in der Schule ab. Dieser Weg führt uns ins Abseits."
(Kölner Stadtanzeiger)

Nach der Verbreitung solcher Zerrbilder über den sogenannten "Wettbewerb" melden sich Eltern, Sportfunktionäre, "Experten", Sportidole und Politiker/innen, um die "klassischen" Bundesjugendspiele zu retten. Fakten spielen dabei oft nur eine untergeordnete Rolle. Qualifizierte sportpädagogische Überlegungen schon gar nicht.
 

Dem Schulsport schadet dies erheblich
Sportlehrerinnen und Sportlehrer werden dabei oft  zu pädagogischen Analphabeten degradiert, vielfältigere und entwicklungsgemäße Wettkampfformate werden als "Kuschelpädagogik" diffamiert.

Man kann das tatsächlich als einen „Kulturkampf“ verstehen, vor dem der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann (SWR 31.7.) gewarnt hatte. Es drängt sich der Verdacht auf, dass der Schulsport für ganz andere politische Intentionen funktionalisiert wird. 

Sportlehrer/innen, die sich für das "Wettbewerbsfomat" entscheiden (das übrigens bis  Klasse 10 möglich ist und bis zur 6. Klassse empfohlen wird) werden sich in Zukunft einigen Nachfragen oder auch Angriffen stellen müssen. Die massiven Falschinformationen in den Medien haben mit Sicherheit Spuren hinterlassen und werden nicht ohne weiteres korrigiert werden können.
Schaut man in die Kommentarspalten der Pressebeiträge, sieht man die hohe Emotionalisierung der Debatte.

Grundlegende Richtigstellungen, wie sie schon Mitte Juli vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) kamen, wurden und werden nicht beachtet. Ein Blick ins Handbuch der Bundesjugendspiele könnte fast alle Missverständnisse ausräumen.


  aus: Handbuch Wettbewerb – Hindernissprint mit Starterin und Zeitnehmern

Bundesjugendspiele: Was ändert sich zum neuen Schuljahr? (DOSB, 13.7. 2023)
Die bewegenden „neuen“ Bundesjugendspiele (DOSB, 19.7.)
Kuschelpädagogik statt Leistung? "Das ärgert mich" (Dominic Ullrich, DLV, bei t-online)
Bundesjugendspiele.de  - Handbuch
Sportunterricht.de/Bundesjugendspiele
 

Politiker/innen springen da gerne noch auf
Wenn die Berliner Bildungssenatorin sagt „wir tun unseren Kindern keinen Gefallen, wenn wir so tun, als ob sich messen und Leistung nichts mit dem Leben zu tun hätten“ ("Tagesspiegel",  5.7.), fragt man sich doch, ob sie weiß, worüber sie spricht. 

Der Sport- und bildungspolitische Sprecher Martin Balasus (CDU, Schleswig-Holstein) startet sogar einen Aufruf "Rettet die Bundesjugendspiele".  - "Die Idee, den Wettkampfgedanken nun aber komplett zu streichen, ist aus sportpolitischer Sicht eine Fehlentscheidung". Von der Saar-CDU und aus Thüringen kommen ähnliche Stellungnahmen.

FDP-Politiker sprechen von einer „Verbannung des Wettkampfgedankens“ (Rülke, BaWü). Nach dem medaillenlosen Abschneiden der deutschen Leichtathleten bei der WM 2023 kommt aus der FDP die Forderung, den Wettkampfcharakter der Bundesjugendspiele beizubehalten. „Die geplante Abschaffung der Leistungsmessung bei den Bundesjugendspielen kommt zur Unzeit“ (Konstantin Kuhle, stellvertretender Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion und stellvertretendes Mitglied im Sportausschuss, "Welt" 1.9.).

Ähnliche Stellungnahmen kommen auch aus der AFD („leistungskollektivierender Wettbewerb“) .
Sogar eine umfangreiche Anfrage im Bundestag ist gestartet worden.

Am 14./15. September meldet sich dann auch die Sportministerkonferenz mit einer eigenen Stellungnahme zu den Bundesjugendspielen zu Wort. Der Wettkampf- und Leistungscharakter solle erhalten werden, die Kultusministerkonferenz solle die Veränderungen noch mal überprüfen. Ein ungewöhnlicher Vorgang.

Bundesjugendspiele mit Wettkampfcharakter und mit messbaren Ergebnissen, wollen Sportminister Armin Schuster und Kultusminister Christian Piwarz aus Sachsen.  Sie begrüßen den Vorstoß der Sportministerkonferenz, "die positive Kraft schulsportlicher Wettkämpfe zu erhalten."
"Die Sportministerkonferenz bittet die Kultusministerkonferenz, die veränderte Konzeption der Bundesjugendspiele noch einmal zu überdenken und auch zukünftig die Durchführung von Wettkämpfen in allen Altersstufen und Disziplinen wieder zu ermöglichen."
Bundesjugendspiele: Sport kann nicht nur Spiel sein (Sachsen.de)

Auch die niedersächsische Innen- und Sportministerin Behrend (SPD) "vermisst den Leistungsgedanken bei den Bundesjugendspielen.“ („Welt“
 

Die Wissenschaft hält sich eher bedeckt – Was sagen die Sportpädagogen/innen?
"Zeit"-Kolumnist Martenstein meint den neuen Leitsatz der deutschen Sportpädagogik entdeckt zu haben: "Leistungsanforderungen sind nicht mehr zeitgemäß" (NDR-Kultur, 6.7.23). 

Angesichts solcher Fehlinformationen und Stimmungsmache wären klare und differenzierende Stellungnahmen aus der deutschen Sportpädagogik hilfreich. Die sind aber eher rar gesät.
Dabei fällt zunächst einmal auf, dass es kaum wissenschaftliche Untersuchungen über die Bundesjugendspiele gibt.
"Für die Sportpädagogen an den nahezu 100 sportwissenschaftlichen Einrichtungen in der Bundesrepublik ist dieser Sachverhalt ganz gewiss kein Ruhmesblatt.“ (H. Digel)

Günter Stibbe, Professor für Sportdidaktik und Schulsport an der Sporthochschule Köln, sieht in der Reform eine "gute Entscheidung".
Man müsse die Bundesjugendspiele stärker mehrperspektivisch auslegen. "Mehrperspektivität heißt, dass es eben nicht nur um eindimensionale Leistungserbringung geht, sondern dass auch andere Beweggründe - also wie Gesundheitsförderung, Wahrnehmungsförderung und so weiter - da mit einbezogen werden."
"Sportunterricht soll nicht auf Leistungssport vorbereiten".
(Inforadio, RBB)

Nils Neuber (Zeit-online) spricht sich für eine eigene Wettkampfdidaktik aus, die Fehlannahmen der “neuen Kritiker“ werden korrigiert.
Zusammen mit Klaus Ziere widmet er sich am 20.September  (Deutsches Schulportal) dem Leistungsbegriff im Schulsport zu. 

"Besinnung auf den pädagogischen Kern von Bundesjugendspielen (ist) nötig, um ihnen neues Leben einzuhauchen: Bei allem Wettkampf- oder Wettbewerbscharakter ist es eine schulische Großveranstaltung, bei der die Gemeinschaft ebenso gelebt werden muss wie das Wetteifern um Punkte und Urkunden. 
Das Miteinanderfreuen und das Miteinanderleiden gehören genauso dazu wie Sieg und Niederlage. Gespräche über Leistungen sind ebenso wichtig wie die Leistungen selbst – denn beide bilden das Fundament einer Leistungsgesellschaft."

Irritierend allerdings die Überschrift des Artikels:„Leistung, aber nur, wenn’s nicht wehtut“.

Im TAZ-Interview weist die Sportpädagogin Ina Hunger darauf hin, dass noch ein deutlicher Reformbedarf bestehe. 
„Wenn es bei den Bundesjugendspielen nicht um eine vermeintliche Bestenauslese, sondern um ein Sportfest gehen soll, das an den Unterricht anknüpft, dann muss Sport in seiner Vielfalt abgebildet werden: beispielsweise durch Wettbewerbe, bei denen die Kinder in ganz unterschiedlichen Bereichen ihre Leistungen miteinander messen können.“

„Sportunterricht ist weder ein Fitnessstudio noch der Zubringer für den deutschen Leistungssport. Dafür gibt es andere Institutionen! Zuallererst ist Sportunterricht ein Bildungsfach, das formal den anderen Fächern gleichgestellt ist. Im Sportunterricht können die Kinder nicht dünner und gesünder gemacht oder für Olympia qualifiziert werden.“

Albrecht Hummel (Sport-nachgedacht) spricht sich für eine stärkere Verbindung von Sportunterricht und Bundesjugendspielen aus. Die Bundesjugendspiele sollen als wertvoller Beitrag der Sportkultur erhalten bleiben.

Wie geht es weiter? 
Die wirklichen Probleme des Sports an der Schule werden von den "neuen Kritikern"  nicht benannt.
Denn: Es fehlt an ausreichenden Sportstunden (übrigens auch zur Vorbereitung der Bundesjugendspiele), Sportlehrer/innen, Sportstätten.
Schwimmunterricht ist oft nicht möglich, die Zahl der Nichtschwimmer/innen nimmt zu. 
Der Bewegungsmangel von Kindern und Jugendlichen ist in der Coronazeit noch verstärkt worden. Maßnahmen wären dringend erforderlich.
"Wettkampf" oder "Wettbewerb" oder überhaupt keine Bundesjugendspiele, ist dann eher eine untergeordnete Frage.

"Das eigentliche Ärgernis der aktuellen Diskussion über die Bundesjugendspiele ist allerdings darin zu sehen, dass mit dieser Diskussion um den Schulsport der Fokus auf einen einzigen Tag, auf den Tag der Bundesjugendspiele, verkürzt wird und die 40 Wochen in der Grundschule, an der (hoffentlich) 120 Stunden „Mehrperspektivischer Schulsport“ stattfinden sollte, völlig aus dem Blick geraten." (H. Digel



Nachtrag -  Ein weiteres Verwirrspiel 

Talkshow "3 nach 9" am 6.10. (Video-Ausschnitt)

Gespräch Giovanni di Lorenzo (Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit", Mitherausgeber des Berliner Tagesspiegels und Gastgeber der Talkshow "3 nach 9" mit Skistar Felix Neureuther.

"Was hälst du eigentlich von der Idee, die jetzt gerade diskutiert wird, dass bei den Bundesjugendspielen nicht mehr Wettwer, Wettbewerbe ausgetre.. kann das Wort gar nicht mehr reden, sprechen, aussprechen, ausgetragen werden sollen, sondern nur, sagen wir mal die Neigung zur Bewegung gefördert werden soll?"

..."Bundesjugendspiele, ja und das da wollte ich gerade darauf darauf kommen und das sieht man letzten Endes das Ergebnis, dass du heutzutage keine Punkte mehr vergeben darfst, anscheinend weil die Kinder einfach nicht mehr gut genug sind, wenn du diese diese Punktevergabe beibehältst. 
Dann will es keiner mehr machen und an dem Punkt sind wir gekommen und die Ursache ist ja eine ganz andere, dass einfach das Thema Bewegung viel zu wenig gefördert wird und jetzt schaffen die die Punkte ab und die was für ein Ziel haben denn die Kinder noch dass sie Sport treiben du nimmst Ihnen das Ziel weg..."


Nachtrag 2 - Nuhr dummes Zeugs
Einen vorderen Platz im Wettkampf der Ahnungslosen sicherte sich kurz vor Jahresschluss noch der Kaberettist Dieter Nuhr (21.12.2023/WDR).

Bundesjugendspiele (2:28/WDR2)


 

Sportpädagogik-online - Bundesjugendspiele
 

Bundesjugendspiele - Anmerkungen zu den "neuen Kritikern"-  Ende des Leistungsgedankens? ("Sportunterricht.de")
Die bewegenden „neuen“ Bundesjugendspiele - Die Bundesjugendspiele werden nicht abgeschafft (DOSB, 19.7.23)
Die Bundesjugendspiele sind nicht das Problem (Prof. H. Digel - "sport-nachgedacht.de")


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