Rede auf der Festveranstaltung 50 Jahre Deutscher Sportbund
 
 Rede von Bundespräsident Johannes Rau auf der Festveranstaltung
 50 Jahre Deutscher Sportbund (DSB) am 8. Dezember 2000 in Hannover


                   Meine Damen und Herren,

                   I.

                   Schon bald nach der Gründung hat Bundespräsident Theodor Heuss
                   die Schirmherrschaft über den Deutschen Sportbund übernommen.
                   Damit hat er von Anfang an deutlich gemacht, welch hohe
                   gesellschaftliche und auch politische Bedeutung der Sport hat.

                   Heute wird gerne betont, der Sport sei unpolitisch. Jeder weiß aber,
                   dass das nicht stimmt.

                   Ob es

                   -  um Stadionneubauten geht,
                   - um öffentliche Sportförderung,
                   - um Fernseh-Übertragungsrechte,
                   - um die Austragungsorte großer Meisterschaften,
                   - um Sponsoring,
                   - um Doping:

                   Immer ist der Sport nicht nur für sich genommen wichtig, sondern
                   auch ein Faktor von großer gesellschaftlicher und politischer
                   Bedeutung, von seiner Funktion als Wirtschaftsfaktor ganz zu
                   schweigen.
 

                   II.

                   An einem kleinen Beispiel lässt sich illustrieren, für wie wichtig der
                   Sport vom Staat gehalten wird.

                   Dazu eine Frage: Was, glauben Sie, ist der Beitrag des
                   Bundespräsidenten zum Sport, den fast jedes Kind kennt?

                   Nun, ich will das schnell auflösen: auf der sogenannten
                   Ehrenurkunde, die Schülerinnen und Schüler für besonders gute
                   Leistungen bei den Bundesjugendspielen bekommen, steht die
                   Unterschrift des Bundespräsidenten. Nur auf den Ehrenurkunden,
                   nicht auf den Siegerurkunden, die man schon mit weniger Punkten
                   bekommt.

                   Und ich finde, es ist mehr als eine Anekdote am Rande, wenn ein
                   Staat für gute sportliche Leistungen in der Schule eine Urkunde mit
                   der Signatur des Staatsoberhauptes herausgibt.

                   Weder eine eins in Englisch noch eine in Musik wird mit einer
                   solchen Urkunde belohnt, auch nicht der Sieg in anderen
                   Bundeswettbewerben wie "Jugend forscht" oder "Jugend musiziert".

                   Das zeigt: Sport gehört wie weniges sonst zur deutschen Kultur.

                   Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang von einer
                   beeindruckenden Dokumentation der fast unglaublichen Präsenz
                   des Sports erzählen.

                   Im Gasometer in Oberhausen wurde in diesem Jahr die große
                   Ausstellung über die Geschichte des Fußballs gezeigt. Da konnte
                   man in der unteren Etage auf großen weißen Plakatwänden die
                   Fußballergebnisse eines einzigen Spieltages in Deutschland
                   studieren. Es waren die Ergebnisse aller Ligen, von den Kleinsten
                   bis zu den Senioren, von Männern und Frauen.

                   Das waren an diesem einen Spieltag, und da habe ich wirklich
                   gestaunt, knapp 35.000 Ergebnisse von 35.000 Spielen. Wenn für
                   jede Mannschaft 11 Spieler gespielt haben, sind das 770.000
                   aktive Spieler. Dazu kommen 35.000 Schiedsrichter, dazu
                   Linienrichter, Trainer, Zeugwarte. In den Kinder- und Jugendligen
                   darf man auch die Eltern nicht vergessen, die auf vielerlei Art
                   beteiligt und engagiert sind. Also eine riesige Zahl aktiver Fußballer
                   und Fußballfreunde, sicher mehr als eine Million. Von den
                   Zuschauern einmal ganz zu schweigen.

                   Und das ist jetzt nur eine einzige Sportart. An jenem Wochenende
                   im Jahre 1999 haben aber gewiss hunderttausend andere
                   Wettbewerbe, Turniere, Liga- und Pokalspiele stattgefunden.
                   Niemand kennt ihre Zahl.

                   Wenn man sich das einmal konkret vor Augen führt, dann wird
                   deutlich, warum man den Sport zu Recht als größte Volksbewegung
                   in Deutschland bezeichnen kann - im doppelten Sinn des Wortes.
 

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                  III.

                   Sport gehört aber nicht nur für die zum Alltag, die ihn aktiv
                   betreiben, oder für die vielen tausend ehrenamtlichen Helfer,
                   Mitarbeiterinnen und Funktionsträger in den Vereinen und
                   Verbänden.

                   "Sportlichkeit" gilt in unserer Gesellschaft als hoher Wert.
                   Allerdings ist hier oft in erster Linie ein sogenanntes sportliches
                   Aussehen gemeint. Sportliche Körper, sportliche Kleidung
                   bestimmen nicht nur die Werbung. Längst schon ist Sportkleidung
                   auch im Alltag bei immer mehr Gelegenheiten und Anlässen als
                   Mode präsent - wenn auch nicht immer passend.

                   Die großen Marken der Sportartikelhersteller versuchen, sich selber
                   einen Kult-Status zu geben, dem auch quasi-religiöse Formen nicht
                   fremd sind. Die Entscheidung für eine Sportmarke scheint
                   manchmal vergleichbar mit der Wahl einer Konfession. Große
                   Eröffnungsfeiern, aber auch schon fast jedes Bundesliga-Spiel
                   erwecken den Eindruck, als kehre der Sport zu seinen kultischen
                   Wurzeln zurück - nun aber selber als Welt-Religion.

                   Sport kann wirklich etwas Wunderbares sein. Wir sollten aber nie
                   vergessen, dass er für die Beteiligten ein Wettkampf, ein Erproben
                   der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten ist und für die Zuschauer
                   eine Unterhaltungs- und keine Heilsveranstaltung.

                   Am Anfang der Sportbewegung steht nicht der Kult, nicht die
                   Ästhetik, erst recht nicht die sportliche Mode, sondern ein
                   bestimmtes Verständnis von Sportlichkeit.

                   - Dazu gehören fair play und Mannschaftsgeist,

                   - dazu gehören die eigene Anstrengung und die Anerkennung der
                   Leistung anderer,

                   - dazu gehören auch das Gewinnenwollen und das
                   Verlierenkönnen,

                   - die Anerkennung von klaren Regeln,

                   - die Freude am Spiel und die Bescheidenheit beim Sieg.

                   All das ist es, was man "sportlich" nennt.

                   Es gibt eine ganze Ethik, die man aus solch echtem Sportsgeist
                   entwickeln könnte. Albert Camus, der als Torwart aktiv war, hat
                   gewiss nicht nur im Spaß gesagt: "Alles, was ich von Ethik und
                   Verantwortung weiß, habe ich beim Fußball gelernt."

                   Ich frage mich manchmal, ob man das auch heute noch sagen kann.
                   Ich frage mich, ob im Sport selber noch jene Sportlichkeit zu finden
                   ist, die ich gerade skizziert habe.

                   Es mangelt nicht an Leistung, nicht an Rekorden, nicht an
                   Medaillen. Aber wir brauchen auch Vorbilder an Fairness und
                   Teamgeist. Vorbilder, die nicht nur das neueste Outfit präsentieren,
                   sondern auch zeigen, dass Sport eine Sache der
                   Persönlichkeitsbildung, des Charakters, eine Frage der inneren
                   Einstellung ist. Auch wenn Millionen Menschen in Deutschland in
                   Sportvereinen Sport treiben, so wird das Bild des Sports und des
                   Sportlers doch ganz weitgehend von wenigen großen Stars geprägt -
                   auf dem Umweg über die Medien.
 

                  IV.

                   Sport ist das Medienereignis Nummer eins. Für nichts müssen die
                   Sender soviel Geld bezahlen, aber auch mit kaum etwas anderem
                   lässt sich so viel Quote machen. Nichts eignet sich für eine
                   Live-Übertragung besser als ein Sportereignis: Einerseits weiß der
                   Zuschauer eines Fußballspiels, eines Boxkampfes oder eines
                   Tennismatches, was auf ihn zukommt und er kann sich darauf
                   freuen, andererseits weiß niemand, wie es ausgeht. Wenn es
                   Zuschauersport nicht schon lange gäbe, spätestens für das
                   Fernsehen hätte er erfunden werden müssen.

                   Natürlich weiß ich, dass es nur ein kleiner Teil der Sportarten
                   schafft, zum großen Medienereignis zu werden. Viele Sportarten, in
                   denen große Leistungen gelingen, finden in den Medien nur am
                   Rande statt.

                   Aber sie verdienen Beachtung: Nicht nur als Anerkennung der
                   Leistungen, sondern auch als Unterstützung und Werbung.
                   Zumindest das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat in meinen Augen
                   die Pflicht und die Chance, hier wenigstens für etwas weniger
                   Einseitigkeit zu sorgen.

                   Sport und Medien: Das ist ein faszinierendes Kapitel der
                   Unterhaltungsindustrie geworden - mit weitreichenden Folgen und
                   Gefahren: Die Unterwerfung des Sports unter die Gesetze der
                   Medien und die unauflösliche Verbindung zwischen Sport und
                   Geschäft.

                   Wo so viel Geld auf dem Spiel steht, da ist die Gefahr groß, dass das
                   Geld letztlich auch bestimmt, wie es im Sport zugeht.

                   - Mediengerechte Regeländerungen,

                   - die Wahl von Austragungsorten und Austragungszeiten,

                    - sponsorengerechte Darstellung,

                   - die Ausreizung der sogenannten menschlichen Potentiale bis an
                   die äußersten Grenzen:

                   All das sind Erscheinungen, die mich fragen lassen, ob das
                   Medienereignis Sport eigentlich immer noch Sport ist, also fairer
                   Wettkampf zwischen Sportlern, nach transparenten Regeln und unter
                   gleichen Bedingungen für alle, bei dem der bessere gewinnen soll.

                   Wir können nicht auf der einen Seite entschieden gegen Doping
                   eintreten, so richtig und wichtig das ist, und auf der anderen Seite
                   nur noch die mediengerechte Höchstleistung mit öffentlicher
                   Beachtung und mit Geld belohnen. Wer den sauberen Sport will, der
                   muss auch den ehrlichen Sport wollen, der muss sich und andere
                   daran erinnern, was "Sportlichkeit" im umfassenden Sinne meint.

                   Es gibt Zyniker, die sagen, der Sport sei eben ein Spiegel der
                   Gesellschaft und darum könne er nicht besser sein als sie. Am
                   Anfang der Sport- und auch der Turnbewegung steht aber ein
                   ethischer Impuls: tatsächlich mehr zu sein als nur ein Spiegel der
                   Gesellschaft. Sich körperlich und charakterlich zu trainieren, um ein
                   besserer Mensch zu werden. Das sollte nicht vergessen werden.
 

                   V.

                   Ich habe bis jetzt vom Spitzensport gesprochen, denn der begegnet
                   uns in den Medien. Bei aller Kritik an Fehlentwicklungen und
                   Auswüchsen der Kommerzialisierung, sage ich: Ich bin für
                   Spitzensport - und wir sollen Spitzensport fördern. Einmal, damit
                   sich Talente entfalten können. Dann aber auch, weil Spitzensportler
                   Jugendliche und Kinder animieren können, es ihnen nachzumachen
                   und auch Sport zu treiben. Ohne Boris Becker und Steffi Graf kein
                   Tennis-Boom in Deutschland, ohne Jan Ullrich und Erik Zabel nicht
                   die große Begeisterung fürs Radfahren.

                   Und schließlich: Wir alle freuen uns doch daran, gute und
                   hervorragende Leistungen, eben Spitzensport zu sehen. Und auch
                   wenn wir jedem Nationalismus abgeschworen haben: Wir freuen uns
                   eben doch, wenn ein Landsmann im Wimbledon-Finale steht, wenn
                   eine Deutsche eine Goldmedaille gewinnt oder wenn "unsere"
                   Mannschaft den Weg zur Weltmeisterschaft findet. Das macht uns
                   froh, ein bisschen stolz, und das ist auch ganz in Ordnung so.
 

                  VI.

                   Das klare Ja zur Förderung des Spitzensports ist für mich
                   unauflöslich verbunden mit dem Klaren Ja zur Förderung des
                   Breitensports.

                   Ohne Breitensport kein Spitzensport, das ist gewiss ein einfacher
                   und ein einleuchtender Grund.

                   Aber es geht noch um etwas anderes: die vielen Hunderttausende,
                   die Sport treiben wollen, die Freude haben am Verein, die den
                   Ausgleich suchen zu ihrer Arbeit, die sich fit halten wollen: Sie alle
                   verdienen Förderung.

                   Auch im Sport fängt alles im Jugendbereich an. Ich danke den
                   vielen tausend ehrenamtlichen Trainern und den Verantwortlichen in
                   den Vereinen.

                   Ich danke den Müttern und Vätern, die ihre Kinder zum Training
                   oder zum Wettbewerb fahren, die ihre Trikots waschen, die im Verein
                   die Feste mitorganisieren, die Kuchen backen, Brötchen schmieren,
                   hinter dem Getränkeausschank stehen und die sich mit ihren
                   Kindern freuen oder mit ihnen leiden.

                   Das ehrenamtliche Engagement ist und bleibt die Seele des Sports,
                   nicht nur im Kinder- und Jugendbereich. Viele werden gebraucht,
                   damit Vereine überhaupt funktionieren können. Viele können durch
                   ehrenamtliches Engagement auch Achtung und Anerkennung
                   gewinnen.

                   Im Sportverein können - nicht nur junge - Menschen Fairness,
                   Toleranz, Hilfsbereitschaft und Teamfähigkeit lernen. Hier kommen
                   Menschen ganz unterschiedlicher Milieus und Berufe zusammen.
                   Hier entstehen Begegnungen und Gespräche. Hier entstehen soziale
                   Netze, die für das Wachsen der Bürgergesellschaft von großer
                   Bedeutung sind.

                   VII.

                   Nicht alle Kinder und Jugendlichen finden den Weg in den
                   Sportverein, obwohl immer noch gilt, dass Sport im Verein am
                   schönsten ist.

                   Weil aber nicht alle in einen Verein gehen und weil auch die
                   Möglichkeiten, sich zu bewegen oder einfach irgendwo zu bolzen vor
                   allem in den Städten immer geringer werden, gerade darum hat der
                   Sportunterricht an den Schulen so große Bedeutung.

                   Man sollte denken, jeder Mensch könne von Natur aus zumindest
                   laufen, springen oder einen Ball werfen. Das ist aber leider nicht so.
                   Die Lebensweise unserer Kinder verbindet aber manchmal.

                   Schon länger machen Mediziner und Sportlehrer darauf aufmerksam,
                   dass vielen Kindern und Jugendlichen elementare motorische
                   Fähigkeiten fehlen, dass sie zum Teil nicht einmal richtig laufen und
                   werfen können.

                   Und andersherum: Vielen Kindern gelingt es vor lauter Zappeligkeit
                   nicht, eine normale Schulstunde ruhig durchzuhalten. Bewegung und
                   körperliche Anstrengung können uns helfen, uns besser zu
                   konzentrieren - und vor allem auch gesünder zu leben. Hier geht es
                   um die Gesundheit jedes einzelnen jungen Menschen. Man darf aber
                   auch ruhig darauf aufmerksam machen, was ungesunde
                   Lebensweise und Bewegungsmangel unsere Gesellschaft kostet.

                   Der Sportunterricht darf ruhig hohe Ansprüche stellen. Er soll die
                   Talentierten entdecken und fördern und möglichst auch Brücken zu
                   den Vereinen bauen. Er sollte aber auch die Leistungsschwächeren
                   und weniger Begabten fördern, ihre Entwicklung belohnen und sie
                   nicht an absoluten Standards messen. Nur dann können
                   Selbstwertgefühl und Freude am Sport wachsen.

                   Der Sportunterricht gehört zur ganzheitlichen Bildung. Er gehört
                   aber auch zur Gesundheitsförderung und zur Prävention.

                   Der Sportunterricht darf an unseren Schulen schon deshalb nicht
                   fehlen. Wer sagt: Schulen ans Netz, der muss auch sagen: Schüler
                   auf den Sportplatz oder in die Halle oder ins Schwimmbad. Das
                   Klicken mit der Maustaste stärkt vielleicht die Muskulatur des
                   rechten Zeigefingers, wird aber auf absehbare Zeit keine olympische
                   Disziplin werden.

                  VIII.

                   Dass Sport eine Sache für alle ist, das sehen wir vielleicht am
                   deutlichsten im Behindertensport. Ich finde es gut und bin sehr
                   dankbar dafür, dass über die Paralympics inzwischen in den Medien
                   viel ausführlicher berichtet wird als früher. Das kann viele
                   Behinderte ermutigen, selber Sport zu treiben. Wo wir können,
                   sollten wir alles tun, um auch ihnen sportliche Betätigung nach ihren
                   Bedürfnissen und Fähigkeiten möglich zu machen.

                   IX.

                   Ja, Sport soll eine Sache für alle sein. Alle müssen die Möglichkeit
                   haben, sich sportlich zu betätigen. Vor allem im Kinder- und
                   Jugendbereich müssen staatliches und privates Engagement
                   zusammenkommen.

                   Vielleicht darf ich zum Schluss einen Wunsch äußern: Könnte es
                   nicht vielleicht ein wenig mehr Solidarität geben zwischen den
                   Spitzenverdienern mit Millionengehältern und den Vereinen, die
                   immense Umsätze machen, auf der einen Seite und den vielen
                   kleinen Vereinen und Initiativen, denen es oft am Nötigsten fehlt,
                   auf der anderen?

                   Ich glaube, an solcher Solidarität könnte sich zeigen, dass Begriffe
                   wie "Sportlichkeit" oder "Sportsgeist" auch heute noch eine
                   wirkliche Bedeutung für unsere gesamte Gesellschaft haben.
 



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