Austellung
"... auf ihres Körpers Wohl und Bildung seht ihr nicht" - Schulsport in Deutschland 1770 - 2000

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Pädagogische Gymnastik bei den Philanthropen
Die Philanthropen ("Menschenfreunde") um Johann Christoph Friedrich GutsMuths (1759-1839) gelten als Wegbereiter neuzeitlicher schulischer Leibeserziehung. 
Den von den Ideen der Aufklärung beeinflussten Reformpädagogen geht es um eine "Verbesserte Erziehung" von Söhnen des Bürgertums. Leibesübungen ("Gymnastik") sind integraler Bestandteil dieser der jugendlichen Entwicklung angepassten, auf Vernunft bauenden, aber auch auf berufliche Brauchbarkeit (Nützlichkeit) zielenden ganzheitlichen Erziehung: durch umfassende Bildung des Körpers soll der vervollkommnete Mensch irdisches Glück erleben. 
An den "Philanthropinen" z.B. in Dessau und Schnepfenthal werden täglich volkstümliche Übungen gepflegt wie Laufen, Springen, Werfen, Klettern, Ringen, Balancieren und Tragen, dazu Schwimmen, Eislaufen, Voltigieren, sowie Spiele, Gartenbau, Handwerk und Wanderungen. 
Nach 1800 geraten die Philanthropen als "Projektemacher" in der öffentlichen Meinung in Misskredit und kommen außer Mode. Die neue Bildungsphilosophie des Neuhumanismus will nicht mehr zum "Bürger", sondern zum "Menschen" erziehen.
  J. C. F. GuthsMuths

    J. C. F. GuthsMuths
    (1759-1839)

   
   
Turnplatz Hasenheide

Turnplatz in der 
Berliner Hasenheide um 1860

  Mobilisation der Massen durch Turnvater Jahn 
Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852), Gründer der deutschen Turnbewegung, will mit seiner "deutschen Turnkunst" Körper und Charakter des ganzen (männlichen) Volkes bilden, seine physische und moralische Kraft (Wehrhaftigkeit) stärken und zugleich Standesunterschiede und Kleinstaaterei in Deutschland überwinden. 
1811 eröffnet Jahn in der Berliner Hasenheide den ersten öffentlichen Turnplatz für seine Leibesübungen im Freien. Turnen, eine deutschtümelnde Wortschöpfung Jahns, soll durch einheitliche Turnkleidung, Riegenturnen, Turnfahrten und -lieder, Massenwettkämpfe und -siegerehrungen Gemeinschaftsbewusstsein und patriotische Gesinnung stärken. 
Im Zuge der Restaurationspolitik wird öffentliches Turnen von 1820-1842 verboten (Turnsperre), die Turner als potentielle Aufrührer und Revoluzzer verfolgt und eingekerkert. 
Der Methodiker und Systematiker Adolf Spieß (1810-1858) passt das Jahnsche freie Turnen an die Zeitbedürfnisse Gehorsam und Ordnung an und schafft durch einen streng reglementierten Kanon von Kommandos disziplinierende "Frei"-Übungen zur schultauglichen Körperertüchtigung.
 
   
   
 
Turnen wird obligatorisches Schulfach
1803/04 tauchen erstmals in bayerischen Lehrplänen "Körperübungen" auf, doch bis zum obligatorischen Schulfach - durch die Turnsperre stagniert die Entwicklung - vergehen noch Jahrzehnte. Selbst in Bayern, wo die Turnsperre bereits 1826 aufgehoben wird und König Ludwig I. sich persönlich für die öffentliche Förderung von Turnen und Schwimmen einsetzt (u.a. 1828 Gründung der Kgl. Öffentlichen Turnanstalt in München), wird Turnunterricht (nach preußischem Vorbild) erst 1861 verbindlich vorgeschrieben, zunächst in den höheren Jungenschulen, später in den Volksschulen und schließlich in den Mädchenschulen. 
Die idealistischen Vorstellungen einer ganzheitlichen Menschenbildung werden von Zielen wie Gesundheitsförderung und Erziehung zu (militärischer) Disziplin und Ordnung abgelöst. Bis zum Ende der Kaiserzeit turnen die Zöglinge i.d.R. klassenweise nach dem Spießschen System in der vereinfachten Form von Alfred Maul (1828-1907). Schon früh wird die Notwendigkeit einer eigenen Turnlehrerausbildung erkannt und 1848 in Berlin die Zentral-Turnanstalt, 1872 in München die Zentralturnlehrerbildungsanstalt gegründet.
  Turnunterricht auf dem Lande

Turnunterricht auf dem 
bayerischen Land um 1890

   
   
Fussball

Fußball mit dem großen Ball

  Homo ludens oder Deutsche Spielbewegung und "English sports"
Die Vernachlässigung von Spielen und Leibesübungen im Freien durch Spieß führt zur Reform des schulischen und außerschulischen Turnens. Ausgehend von Braunschweig - Konrad Koch (1846 -1911) pflegt dort nicht nur die alten Jahnschen Turnspiele wie Schlagball, Barlaufen oder Kettenreißen, sondern führt ab 1874 auch das Fußballspiel und andere englische Spiele ein - wird der Typus des noch heute gebräuchlichen Sportspiels entwickelt. 
Fußend auf dem "Goßlerschen Spielerlass" des preußischen Kultusministers von 1882 wird 1891 der "Zentralausschuss zur Förderung der Volks- und Jugendspiele in Deutschland" gegründet, der von Anfang an auch die Mädchen berücksichtigt. Die Turner, geprägt von strenger Haltung, geregelter Gemeinschaft, nationalpatriotischem Bekenntnis zu Kaiser und Vaterland, sehen sich (zu Recht) durch den "undeutschen" Sport von der Insel mit seiner Ausrichtung auf individuelle Höchstleistung (Rekord) und Wettkampf bedroht.
 
   
   
 
Turnunterricht in der Weimarer Republik
Der wirtschaftlichen Baisse ungeachtet beginnen Turnen und Sport in den Goldenen Zwanzigern ihren beispiellosen Aufschwung zur Massenbewegung. 
Das zu formalistischen Ordnungs-, Frei- und Haltungsübungen erstarrte Schulturnen der Kaiserzeit wird unter dem Einfluss des "Natürlichen Turnens" der beiden österreichischen Schulturnreformer Karl Gaulhofer und Margarete Streicher überwunden und durch eine ganzheitliche, natürliche "Leibeserziehung" als Teil der Gesamterziehung ersetzt.
Spielnachmittage, Wandertage, Rudern und Skilauf (Freilufterziehung) einerseits, Körperschule, Gymnastik und (Ausdrucks-) Tanz (vor allem im Mädchenturnen) andererseits, gehören nun ebenso zum Turnunterricht wie ein florierendes Wettkampfwesen in den verschiedenen Sportarten, die nun gleichberechtigt nebeneinander bestehen. 
Auf der 1920 in Berlin einberufenen Reichsschulkonferenz wird sogar die Reifeprüfung im künftigen Hauptfach Turnen gefordert und die "tägliche Turnstunde" als Zielsetzung verabschiedet.
  Spiel mit dem Medizinball

Spiel mit dem Medizinball

   
   
Hitlerjungen marschieren

"Wir sind das neue Volk im Schritt,
das kämpfend seine Straße zieht."

  Politische Leibeserziehung im Nationalsozialismus
Die Diktatur des Dritten Reiches macht die schulische Leibeserziehung zum "Staatsfach" und grundlegenden, untrennbaren Bestandteil der nationalsozialistischen Gesamterziehung zu den die Nation tragenden Werten Volksgemeinschaft, Wehrhaftigkeit, Rassebewusstsein und Führertum. 
Fünf Wochenstunden Körperertüchtigung mit Schwerpunkt Kampfsport bei den Jungen und Mädeltanz bei den Mädchen sollen die Jungen zu harten, wehrtüchtigen Soldaten, die Mädchen zu gebärfreudigen gesunden Müttern erziehen. 
Tatsächlich aber verarmt das schulische Sportleben durch den erzwungenen Verzicht auf den Spielnachmittag und das Verbannen des Wettkampfsports in die nationalsozialistischen Jugendorganisationen. 
Und der Anspruch der Ideologie scheitert an der politischen Wirklichkeit des Krieges: Bereits seit 1937 ist jeglicher Turnhallenbau untersagt und die bestehenden Hallen dienen bald nicht mehr dem Schulsport, sondern als Getreidespeicher und Lazarette. 
 
   
   
 
Entpolitisierung des Sportunterrichts im Westen - Umpolung im Osten
Nach dem Krieg etabliert sich in Westdeutschland der Sportunterricht wegen seiner hohen gesundheitlichen Bedeutung erneut, wenn auch unter einfachsten Verhältnissen. Intensiv wird Sportstättenbau betrieben, um Raumnot und Gerätemangel zu beheben. 
Die Lehrpläne orientieren sich zunächst am harmonischen, ganzheitlichen Menschenbild der Weimarer Zeit, betonen dann das Leistungsprinzip (Wettbewerb "Jugend trainiert für Olympia" 1969 ff.), entdecken mit Lernzielorientierung und Curriculumtheorie den gesellschaftlichen Bezug des Schulsports und schließlich sogar den Schüler mit seiner Begabung und Neigung (Differenzierung). 
In Ostdeutschland richtet sich die Körpererziehung fast nahtlos am sowjetischen Vorbild und an gesellschaftspolitischen Zielen aus: Leistung, Pflicht und Disziplin. In KJS = Kinder- und Jugendsportschulen wird der leistungssportliche Nachwuchs getrimmt. "Turnen" dient ab 1956 der patriotischen Erziehung eines zur Arbeit, zur Verteidigung und zum Klassenkampf bereiten Kollektivs und Schulsport als Teilbereich von "Körperkultur und Sport" gilt ab Mitte der 60er Jahre wieder als ideologische Schule der Arbeiterklasse.
  Not macht erfinderisch

Not macht erfinderisch

   
   
"Bewegungsmarkt" Schulsport

"Bewegungsmarkt" 
Schulsport

  Fit for fun oder fun statt fit?
Im heutigen Differenzierten Sportunterricht ist alles möglich, aber nichts geht mehr. Der "Bewegungssupermarkt" Schulsport bietet alles, was gut und gängig ist: Traditions- neben Trendsportarten, Bewegungskünste und New Games, Wettkampf- oder Gesundheitssport - anything goes - aber bitte nicht mehr als zwei Stunden die Woche! 
Nie war die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität so groß wie heute. Sportunterricht soll Kinder und Jugendliche stark machen in jeder Hinsicht, soll ihre sensorische, motorische, soziale und emotionale Entwicklung fördern, Schwächen ausgleichen, Fehlentwicklungen reparieren, soll neue Körper- und Bewegungserfahrungen vermitteln, vor Unfällen, Zivilisations-, Haltungs- und anderen Schäden bewahren, fit und Spaß machen, nur eines soll er nicht: Zeit und Geld kosten. Kürzung der Sportstunden, Einstellungsstopp für Sportlehrer, das bayerische Kooperationsmodell "Schule und Sportverein" eine Mogelpackung, der Superlehrplan für die Schublade?
 

Text: Maria Huber 

 
   
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