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 Gibt es ein Leitbild des olympischen Sports?..........................

Ommo Grupe
 


"Die moderne Olympische Idee war für ihren Begründer Coubertin in erster Linie eine pädagogische Idee. Das Wichtigste an ihr waren für ihn weniger sportliche Rekorde als erzieherische Ziele. Nach seiner Auffassung muss der Olympismus pädagogisch orientiert sein, weil ohne eine solche Orientierung auch die modernen Olympischen Spiele auf das Niveau der Gladiatoren-Wettkämpfe in den Zirkusarenen Roms zurückfallen. Dieser erzieherischen Ausrichtung des olympischen Leitbilds liegen nach Coubertins Auffassung fünf Prinzipien zugrunde:
Erstens das Prinzip einer harmonischen Ausbildung des Menschen: Sporttreiben soll dem Ideal einer ganzheitlichen Erziehung folgen. "Muskeltraining" reicht nicht zur Menschenbildung.

Zweitens das Ziel der Selbstvollendung, Selbstgestaltung würden wir heute sagen: Sportliches Können ist als Ergebnis der „Arbeit“ an sich selbst anzusehen.

Drittens das Ideal der Amateurgesinnung: Dabei geht es zum einen um den Schutz des Sports insgesamt vor dem Geist der "Gewinnsucht", und zum anderen geht es darum, den "Athleten von Olympia" nicht in einen "Zirkusgladiator" zu verwandeln.

Viertens die Bindung an sportliche  Grundsätze: Das Gebot der Fairness und die Einhaltung sportlicher Regeln bedeuten zum einen, ein nach Regeln geordnetes Sporttreiben überhaupt zu ermöglichen, und zum anderen ungestüme Kräfte und Leidenschaften im Sport so zu kontrollieren, daß sie nicht in „Barbarei“ enden.

Fünftens die Friedensidee des Sports: Ein zentraler Leitgedanke Coubertins handelt von der Notwendigkeit des Friedens zwischen den Menschen und den Völkern. Dieser Friedensgedanke steht nicht im Gegensatz zum sportlichen Leistungs- und Wettkampfprinzip; dieses Leistungs- und Wettkampfprinzip steht vielmehr in seinem Dienst. Coubertin war dabei nicht weltfremd. Damit sich die Menschen achten können, müssen sie sich zuerst kennen lernen, schreibt er.
 

Der Sport von heute ist nicht mehr der, von dem Coubertin ausgehen konnte. Seiner Realität entsprechen die traditionellen olympischen Grundsätze nur noch zum Teil. Dass es Widersprüche gibt, ist nicht neu. Oft diente und dient die Darstellung von hohen Werten der Bemäntelung von Fehlentwicklungen oder auch der Durchsetzung handfester wirtschaftlicher und medialer Interessen. Manche der dem Sport zugeschriebenen Werte erscheinen angesichts seiner Wirklichkeit als Ausdruck von Doppelmoral.

Deshalb muss das olympische Leitbild, das Coubertin entwarf, aber nicht falsch sein. Es gilt jedoch, es immer wieder zu prüfen, dabei dem olympischen Sport eine neue Legitimation zu geben und Antworten auf die Frage zu finden, was seine Zukunft sichern kann, also zu fragen, ob in ihm alles gemacht werden darf, was gemacht werden kann: Der Körper geschädigt, die Leistung manipuliert, das Geschäft über die Moral gestellt, der Erfolg über die Fairness.

Wenn aber die klassischen Werte und Grundsätze des olympischen Sports nicht vollständig und unverändert übernommen werden können, was heißt dann heute noch olympisch?
 

Olympisch sollte auch künftig als Erziehungsidee verstanden werden, die auf Athletik und Können in Verbindung mit Klarheit der Gedanken und Fairness im Handeln zielt. Die sportlich-olympische Höchstleistung ist ihre schönste Ausdrucksform. Aber das Prinzip, dem sie folgt, muss für alle Leistungsstufen und Altersgruppen gelten.

Olympisch ist die Idee der Leistung und des Könnens. Aber diese Idee sollte für mehr als nur für das Messbare und Bewertbare stehen, nämlich für die Idee der Selbstgestaltung, für Sport als „Medium“ der Selbsterprobung.

Olympisch ist wichtiger Ausdruck der Idee der Fairness. Fairness ist das, was den Sport von bloßem Körpertraining und folgenlosem Zeitvertreib unterscheiden soll. Die Einhaltung sportlicher Regeln bedeutet, den Sport auf eine höhere Stufe zu stellen, und seine Zukunft hängt davon ab, ob er sich von dieser Idee leiten lässt.

Olympisch ist auch die Idee des Friedens. Diese Idee löst Konflikte nicht, aber sie ist ein Modell für den Umgang mit den Konflikten. Sie setzt die Akzeptanz des kulturellen Andersseins, die Toleranz von weltanschaulichen und religiösen Unterschieden voraus, und sie richtet sich gegen jede Diskriminierung von Rasse, Geschlecht und Weltanschauung. Olympischer Sport kann dafür ein Beispiel sein.
 

Vorausblickend nahm Coubertin mit seiner Auffassung ein zentrales Problem unserer heutigen Welt vorweg: Wie kann es gelingen, für das individuelle Leben und soziale Zusammenleben wichtige Werte im Erleben, Fühlen, Handeln und in den Erfahrungen der Menschen verankern und ein Modell dafür öffentlich und wenn möglich weltweit verbreiten. Für Coubertin hieß dieses Modell Sport treiben auf der Grundlage der olympischen Prinzipien. Ein solches Leitbild ist in unserer Welt offensichtlich notwendiger als je zuvor. Unter historischen, politischen und pädagogischen Aspekten ist es also noch viel zu früh, sich von den Olympischen Spielen und dem Leitbild, an dem sich der olympische Sport orientieren sollte, zu verabschieden."


 

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